Familientreffen

Es dauerte Tage, bis Violetta sich ausgeweint hatte. Als sie im einmal angefangen hatte, konnte sie ihre Tränen nicht mehr halten. Obwohl oder grade weil sie zu ihrer Mutter nie eine liebevolle Beziehung aufbauen konnte, ging ihr Sofies Tod unwahrscheinlich nahe. Rick war an ihrer Seite, wann auch immer sie es wollte. Er meldete sich sogar krank, um immer bei ihr sein zu können. Auch ihm wurde klar, wie wichtig die Familie eigentlich war und das man sie brauchte. Dass man lernen sollte, sie zu schätzen, bevor es zu spät war. Dass es sehr schnell gehen konnte, und die Eltern mit einem Schlag nicht mehr da waren. Violetta musste das auf sehr schmerzlichem Weg lernen und sie hatte ihm gesagt, er solle es besser machen. Also nahm sich Rick ein Herz und wählte einige Tage nach Sofies Beisetzung die Festnetznummer seiner Eltern.

Allerdings hatte er sich einige Erklärungen zurecht gelegt, er wusste nicht, wie Edgar und Olga reagieren würden. Er hatte sie zwar über wichtige Ereignisse wie seine Verlobung und seinen Abschluss in Kenntnis gesetzt, war dabei aber lieber bei schnell hingeschmierten Postkarten geblieben. Deshalb klopfte ihm nun doch ein bisschen das Herz, als er die deutlich alt gewordene Stimme seines Vaters am Telefon hörte.

„Konträr?“

„Hallo Vater, ich bins, Rick.“ 

„Rick? RICK! Mein Junge! Wie schön dass du anrufst! Olga, meine Liebe, komm mal her, Rick ist am Telefon!“

Im Hintergrund hörte er seine Mutter qietschen und ans Telefon poltern. Scheinbar war er nun auf Lautsprecher gestellt.

„Rick, hier ist die Mami! Wie geht’s dir denn? Wir sind ja so stolz auf dich, herzlichen Glückwunsch! Wir wollten dir ja ein Geschenk schicken, aber die Kleinen fressen uns die Haare vom Kopf, da reicht die Rente kaum aus. Die werden ja so schnell groß und wir hatten gar keine Zeit für dich, mein armer Sohn. War das Studium sehr schwer?“

Rick hatte mir Vorwürfen gerechnet, mit eiskalter Ablehnung, hatte sich schon darauf vorbereitet sich entschuldigen zu müssen weil er so lange nichts von sich hatte hören lassen. Aber das hier hatte er sich in seinen wildesten Träumen nicht ausgemalt. Scheinbar hatten seine Eltern gar nicht wahrgenommen, dass er sie absichtlich auf Distanz gehalten hatte.

 

„Ja danke, einfach war es nicht, aber ich habe es ja geschafft. Wie geht es euch denn?“

Edgar lachte laut ins Telefon. „Mein Sohn, wir sind alt und klapprig und haben ein Haus voll jungem Leben, das uns auf Trab hält. Wir können uns wirklich nicht beklagen!“ Man konnte etwas Erschöpfung, aber auch viel Glück aus dieser Aussage hören. Rick bemerkte, dass er kaum noch Ärger verspürte. Noch vor einigen Wochen wäre er wahrscheinlich geplatzt, wenn er gehört hätte, dass seine Eltern ihn einfach ersetzt hatten. Nun aber freute er sich, dass sie in ihrem hohen Alter so glücklich waren. Sofies Tod hatte ihn wachgerüttelt.

Rick hatte sich vorgenommen, erstmal seinen Vater allein zu treffen, um die Stimmung in seinem Elternhaus herauszufinden. Trotz des herzlichen Telefonats wusste er noch nicht sicher, ob seine Eltern ihm gegenüber wirklich so positiv gesinnt waren. „Vater, ich habe angefangen zu Angeln. Würdest du mir ein paar deiner Angeltipps zeigen? Vielleicht am Sonntag? In diesem Park, in dem wir früher immer waren?“

 

„Grachtens Garten? Aber Junge, du brauchst doch nicht extra wegen uns nach Desiderata reisen!“

Uups. Da hatte Rick wohl vergessen zu erwähnen, dass er seit ein paar Jahren wieder hier lebte. Hatten die beiden aber auch gar nichts mitbekommen? So groß war Desiderata doch auch nicht? Oder waren die vier Studenten in ihrem kaputten Häuschen einfach kein Stadtgespräch wert? Naja, umso besser, eine lästige Erklärung weniger.

„Äh, wir sind wieder hergezogen. Das ist also kein Problem.“ Er nannte einfach keinen genauen Zeitpunkt, das war wohl das Beste. Er war froh, den Kontakt so problemlos wieder aufbauen zu können, warum also unnötig Zwist säen?

 

„Wunderbar, ganz wunderbar, mein Sohn. Dann sehen wir uns am Sonntag im Park. Ich freue mich schon sehr darauf!“ Edgar und Olga verabschiedeten sich mit großem Tamtam, dann legte Rick erleichtert auf. Irgendwie freute auch er sich, seinen Vater wieder zu sehen.

 

 

 

 

Am Sonntag stand Rick zum verabredeten Zeitpunkt in Grachtens Garten und sah sich um. Von seinem Vater war weit und breit nichts zu sehen. Das war bei diesem verpeilten Wissenschaftler aber auch nicht anders zu erwarten, vermutlich würde er erstmal alle anderen Parks in Desiderata abgrasen, bevor er zum richtigen kommen würde. Sein Vater war schon immer ein echtes Unikat gewesen.

So wartete Rick und sah sich etwas um. Für einen Sonntag war erstaunlich wenig los, aber dennoch passte er auf, dass er seinen Vater am Ende nicht noch übersah. Immerhin hatte er ihn doch einige Jahre nicht mehr gesehen. Außerdem war es schön, einmal wieder in dem Park zu sein, zu dem er seinen Vater und seine Freunde als kleiner Junge ab und an begleiten hatte dürfen. Edgar und seine Kumpel John Spitzel und Luis Adler hatten gerne den ganzen Tag im Park nach seltenen Insekten gesucht, waren exotischen Vögeln auf die Bäume nachgeklettert, nur um am Ende festzustellen, dass es doch ein simpler Blauheer war, oder hatten Grachtens kompletten Garten auf der Suche nach höchst interessanten Fossilien und Steinchen umgepflügt.

Jetzt, als Erwachsener, musste er über diese leidenschaftlichen Naturfreunde schmunzeln, doch als Kind waren die ihm natürlich absolut peinlich gewesen. Ihm fiel ein kleines Mädchen auf, das – wie er damals während der langweiligen Umgrabearbeiten seines Vaters –  Steine ins Wasser schmiss. So hatte er in dem Alter auch sämtliche Kiesel in den Teich geschleudert, bei ihm war es damals aber eher Frust. Das Mädchen allerdings schien sogar Spaß daran zu haben. Um sich die Zeit zu vertreiben ging Rick eine Runde im Park herum. Als er auf dem Rückweg wieder an dem Mädchen vorbei kam, sah er, dass das Mädchen gar nicht mehr so klein war. Das heißt, sie war höchstens 12 oder 13, aber sie zog sich wesentlich älter an. „Was ist nur aus der Jugend geworden? Frühreif wie sonst was, ziehen sich an wie am Badestrand, haben schon mehrere „Beziehungen“ hinter sich, in denen kleine Kinder erste Schlabberküsse austauschen. Wie hat sich das doch verändert … Violettas und mein erster Kuss dagegen hatte wirklich etwas mit aufrichtigen Gefühlen zu tun, das war nicht bloß so ein Herumgeschlabber um cool zu sein!“, dachte sich Rick. Offensichtlich hatte das Mädchen seine verächtlichen Blicke bemerkt, denn es sah auf und schaute ihm fragend in die Augen. „Hallo“, sagte es mit einer noch sehr kindlichen Stimme. Rick nickte nur und wollte weiter gehen. „Warten Sie bitte!“, rief es ihm auf einmal hinterher. Rick musste sich eingestehen, dass das Mädel wenigstens Manieren hatte. Er drehte sich um und wartete. „Ich suche jemanden, können Sie mir vielleicht helfen?“, fragte die Kleine höflich. „Naja, ich denke ein bisschen Zeit hab ich noch. Aber du solltest wirklich nicht einfach Fremde ansprechen, das kann sehr gefährlich sein, weißt du?“, Rick konnte nicht anders, als das junge Ding etwas zu belehren. Dennoch wollte er ihr helfen. „Wen suchst du denn?“ Das Mädchen schaute nach diesem unerwarteten Vortrag leicht verschämt drein, zog dann aber ein Foto aus der Tasche und zeigte es ihm. Auf dem Foto war er selbst abgebildet.

 

Rick war perplex. Warum hatte dieses Mädchen von ihm ein Foto? Noch dazu ein sehr altes, es zeigte ihn als Teenager. War die Göre etwa eine Art Stalkerin? In den jungen Jahren? Was war nur aus der Welt geworden? Er brauchte einen Moment um all diese Gedanken durch sein arbeitendes Hirn strömen zu lassen. Diesen Moment nutzte die Kleine um zu erklären: „Mein Papa hat mich hergeschickt, er sagte, ich solle hier auf dich warten. Er hat keine Zeit und ich soll ihn vertreten. Ist das für dich in Ordnung? Ich habe mich schon so gefreut dich mal zu sehen, darf ich „du“ sagen?“ Sie grub schüchtern die Schuhspitze in den Sand. Da Rick immernoch nichts sagte erzählte sie weiter: „Willst du auch mit mir Angeln? Ich kann das, Papa hat´s mir beigebracht, als er noch mehr Zeit für mich hatte. Seit Loic zur Schule geht klappt das aber nicht mehr so. Ich bin aber schon ganz gut in der Schule, ich brauche keine Hilfe mehr!“ Das Mädchen plapperte und plapperte. Wollte sie mit dem Geplapper ihre offensichtliche Unsicherheit überspielen? Oder aber ... Ricks Hirn ratterte und ratterte ... dieses wasserfallartige Redeschwall kam ihm bekannt vor. 

Und mit einem Mal machte es Klick. Die Kleine musste das Tratschtanten-Gen von Olga geerbt haben. „Du bist also … Allegra-Chanel?“, fragte er. „Chanel?!“, das Mädchen verzog angewidert das Gesicht. „Ne, Chanel heiße ich nicht. Wie kommst du denn darauf? Aber Allegra stimmt schon. Und du bist Rick stimmts?“ Rick war recht dankbar, dass seine Mutter bei der Namenswahl nicht komplett durchgedreht war. Scheinbar hatte sein Vater sie noch ein kleines bisschen zur Vernunft bringen können. „Wie alt bist du denn jetzt?“, wollte er noch wissen. „Fast elf! Aber ich bin schon fast erwachsen, das sagen alle!“, antwortete sie voller Stolz. Rick glaubte das nur zu gerne, bei Eltern, die nicht nur schon rechte Greise waren, sondern seit jeher total verschusselt, hatte auch er früh erwachsen werden müssen. Allegras Kleidungsstil konnte er deswegen trotzdem nicht nachvollziehen, er fand ihn viel zu reif für ihr Alter. Andererseits wollte die Kleine aber auch nicht gleich beim ersten Treffen ständig zurechtzuweisen. „Na dann … Allegra … Angeln klingt doch gut, meinst du nicht?“ Seine kleine Schwester wirkte wie erlöst und holte begeistert zwei Angelruten hervor, die sie an einen Baum gelehnt hatte. Gemeinsam standen sie nun am Ufer des kleinen Teiches und keiner von beiden wusste so recht, was er sagen sollte.

 

Dann begann Rick zu fragen wie es den Eltern ging, ob nun beide in Rente waren, wie es zu Hause aussah und Allegra beantwortete ihm gerne alles was er wissen wollte, denn sie fand es toll, endlich mal ihren großen Bruder kennen zu lernen. Ihr gelang es sogar vor Einbruch der Dunkelheit ein kleines Fischchen zu fangen, das sie direkt im Park grillen wollten.

 

Beim Essen musste Rick aber noch eine andere Frage stellen, die ihm unter den Nägeln brannte: „Allegra, hast du nicht vorhin gemeint, Papa hätte nicht mehr so viel Zeit für dich?“ Allegra kaute gar nicht ganz zu Ende und antwortete – wie Rick es ebenfalls gern zu tun pflegte - mit halb vollem Mund: „Naja, schon. Aber das ist ja nicht so schlimm. Als ich in die Schule gekommen bin habe ich auch noch viel Hilfe bei den Hausaufgaben gebraucht. Ich wollte Loic das ja erklären aber Papa meinte ich hab schon sehr viel geholfen. Weißt du ich hab Loic nämlich basteln und malen und Bauklötzchen bauen beigebracht, ich war immer eine supergute und fast erwachsene Schwester ..."

Während Allegra gar nicht mehr aus dem Erzählen herauskam musste Rick sich sehr zusammen nehmen, sich den Schock nicht anmerken zu lassen. Dass Olga scheinbar vor circa sechs Jahren nochmal Mutter geworden war, war dabei noch das am wenigsten Schockierende. Er hatte nicht mal Allegras Namen mit hundertprozentiger Sicherheit sagen können, und jetzt erfuhr er so nebenbei von einem weiteren Geschwisterchen. Ein kleiner Bruder. Als Kind hatte sich Rick immer einen Bruder gewünscht und nun hatte er seit sechs Jahren einen und wusste es nicht einmal. Wieder flammte die Wut auf seine Eltern auf. Hatten sie allen Ernstes sechs Jahre lang verschusselt, ihren ältesten Sohn anzurufen und ihm Bescheid zu geben? Irgendwo reichte es!

Vertieft in seine wütenden Gedanken bemerkte er zu spät das Wurfgeschoss und konnte nicht mehr ausweichen. Das Stück Brot traf ihn direkt an der Wange.

„Hey!“, motzte er seine Schwester an. Die war aber mittlerweile gar nicht mehr so schüchtern wie am Anfang ihres Treffens und lachte ihn sogar aus. "Du träumst! Wer träumt verliert die Essensschlacht!"

Rick schaute das Mädchen fassungslos an. „Wow, du schaust grade genau so wie Loic auch immer guckt. Wie ein begossener Pudel. Da hat man schon zwei Brüder und trotzdem kann ich mehr ab als ihr beide zusammen. Dabei haben Mama und Papa immer erzählt du seist so ein starker großer Bruder! Pfffff, da lachen ja die Hühner, ich bin viel stärker als du, wollen wir wetten? Hier nimm meine Hand, wir machen Armdrücken, ich gewinne bestimmt weil ich …“ Zwischen Allegras erneutem Plapperanfall realisierte Rick, dass die Kleine stärker war, als er angenommen hatte. Wenn sie das gleiche mitmachen musste, was er als Kind erlebt hatte, jeden Tag allein zu Hause, vergessene Geburtstage und fanatische Wissenschaftlereltern, hätte sie einen großen Bruder wirklich gut gebrauchen können. Eigentlich hatte er tatsächlich die Pflicht, das kleine Mädchen zu beschützen.

Er hätte Allegra unterstützen und beschützen sollen statt sie zu meiden. Er fühlte sich mächtig schäbig. Und er kochte vor Wut über seine Eltern. Da wollte er eigentlich einen Neuanfang starten und nun kam das heraus. Ohne ein Wort nahm er die beiden leeren Pappteller, warf sie in den Mülleimer und begann den kleinen Tisch abzuräumen.

Allegra hielt inne und sah ihren großen Bruder verdutzt an. „Ist alles ok? Bist du sauer auf mich?“

„Nein, alles gut. Es wird nur langsam dunkel und ich möchte nicht dass du allein nach Hause gehst. Ich bring dich heim, ja?“

„Oh echt? Cool, dann siehst du Loic ja doch noch! Der hat schon den ganzen Tag rumgeheult weil er dich auch treffen wollte, aber Papa meinte einer von uns ist erstmal genug für dich. Und da hat er natürlich mich ausgewählt, ha! Oh, und weißt du was ich dir noch zeige? Ich hab mit Papa im Garten ein Gewächshaus gebaut da sind ganz seltene Pflanzen drin, aber die tragen bald schon Früchte und dann können wir Saft machen und den trinken wir dann zusammen, ok? Oh, und Marmelade mache ich auch die essen wir dann mit Eierpfannkuchen …“ Allegra war wieder in ihrem Element.

 

Als Rick an der Haustür seines Elternhauses klingelte, war ihm doch komisch in der Magengrube. Seit über zehn Jahren war er nicht mehr hier gewesen. Von außen sah alles genauso aus wie damals, die Fassade war wohl nicht einmal gestrichen worden in der Zeit. Nur von Weitem sah er das neue kleine Gewächshaus hinten im Garten. Unter normalen Umständen wäre Rick wohl wieder umgekehrt nachdem er die Kleine abgesetzt hatte, aber er musste mit seinen Eltern endlich mal Klartext reden. Sie hatten zwei Kinder im Haus und auch wenn sie schon recht alte Eltern waren, musste es hier geregelter zugehen. Allegra und Loic hatten sich zwar immerhin gegenseitig, aber trotzdem sollten sie noch Kind sein dürfen und nicht jetzt schon erwachsen sein müssen! Wenn es hart auf hart kommen würde, würde er sogar vor Gericht das Sorgerecht für seine kleinen Geschwister einklagen. Entschlossen klingelte Rick Sturm. Scheinbar waren Edgar und Olga auch noch schwerhörig geworden.

Quietschend öffnete sich die Tür und eine verblüffte Olga starrte ihn an. Nachdem sie begriffen hatte, wer da vor ihr stand, stieß sie einen Begeisterungsschrei aus. „Rick, Schätzchen! Dass du sogar noch mit her kommst! Damit haben wir nun nicht gerechnet, aber komm doch rein, komm rein, mein Liebling.“ Beschwingt wackelte sie in ihren Hausschlappen voraus ins Esszimmer. „Edgar, Rick ist da! Schau doch! Ach Liebling, möchtest du etwas essen? Grade habe ich Käsemakkaroni gemacht, die Kinder lieben sie, wenn du willst kann ich auch noch einen Salat machen, frisch aus unserem Garten … Ah, genau, ich hole noch ein paar von den Kräutern!“ Olga war durch das Esszimmer schonwieder weiter in die Küche gegangen und redete dort unentwegt vor sich hin. Rick befürchtete, dass Allegra nun auch wieder anfangen würde zu plappern und hatte schon Angst um sein Trommelfell. Aber seine kleine Schwester murmelte nur „Hm, lecker“, stürzte voraus auf den freien Stuhl und schaufelte Makkaroni in ihre Schüssel. Rick Blick wanderte durch das Esszimmer. Sie hatten sie einen größeren Tisch kaufen und etwas umstellen müssen. Edgar saß am Kopfende und konnte nicht so schnell begreifen wie seine Frau reden. Er schaute seinen ältesten Sohn an wie einen Geist der durch die Wand ins Zimmer geschwebt war. Dann sprang er auf.

 „Rick, Junge! Du siehst hervorragend aus! Schau dahin, aus dir ist ja ein richtiger Mann geworden. Sehr stattlich! Bitte setz dich doch, mein Sohn, hier, möchtest du etwas trinken?“ Er rückte Rick einen Stuhl zurecht.

 

„Nein danke, Vater. Ich brauche nichts.“ Ricks Blick fiel auf den Jungen und das Mädchen, die im Pyjama am Esstisch saßen und das Schauspiel verwundert beobachteten. „Ist das Loic? Mein BRUDER?“ Das letzte Wort betonte er besonders.

„Ja ganz richtig, Junge. Das ist Loic.“, antwortete ihm sein Vater. Rick konnte aber nicht ausmachen, ob in Edgars Stimme Bedauerung mitschwang. Merkte er überhaupt, dass er vergessen hatte, Loics Geburt Rick gegenüber zu erwähnen? Langsam zweifelte der junge Mann wirklich am Verstand seiner Eltern.

„Und das Mädchen? Hat Loic etwa noch eine Zwillingsschwester?“ Langsam konnte Rick den Unterton in seiner Stimme nicht mehr verbergen.

„Nein nein, dass ist Thea, Loics kleine Freundin. Sie kennen sich schon seit dem Kindergarten und heute haben sie den ganzen Tag schön zusammen gespielt, nicht wahr?“, erklärte Edgar immernoch fröhlich.

„Ja, weil Loic wie ein Baby rumgeheult hat, weil er nicht mit in den Park durfte. Sorry Thea, aber du bist heute nur Loics Trostpflaster“, merkte Allegra zwischen zwei Bissen an. Dafür erntete sie von Loic einen bitterbösen Blick. Eigentlich fand Rick diese geschwisterliche Kabbelei schon sehr süß, aber er war wegen etwas Anderem gekommen. Wenn hier heute Nacht sogar drei Kinder schliefen, musste er schnell handeln.

„Vater, kann ich bitte kurz allein mit dir reden?

„Aber sicher doch, sicher doch, mein Junge. Gehen wir doch ins Wohnzimmer? Schatz, ich bin mal kurz mit unserem Sohn im Wohnzimmer!“, rief er Olga in die Küche hinein.

Das Wohnzimmer hatte sich auch verändert, die Tapete war jedoch die gleiche wie schon in Ricks Kindheit. Er nahm auf dem neuen Sofa Platz während sein grauhaariger Vater die Tür schloss. Es war ganz offensichtlich, dass die letzten zehn Jahre auch an Edgar nicht spurlos vorbei gegangen waren. Edgar setzte sich auf das andere Sofa. „Was hast du denn auf dem Herzen?“

„Vater, ich will nicht lange um den heißen Brei herum reden. Eigentlich wollte ich nicht gleich mit hierher kommen sondern mich erst einmal mit dir alleine Treffen und schauen, wie die Lage hier so ist. Und dann steht da auf einmal eine Zehnjährige vor mir, die man locker schon für dreizehn halten könnte, und sucht unter lauter Fremden ihren großen Bruder. Ist dir eigentlich klar, wie das wirkt und gefährlich das heutzutage sein kann? Wir leben nicht mehr neunzehnschlagmichtot, wo man jedem blind vertrauen kann! Ihr könnt ein Kind nicht einfach allein im Park Fremde ansprechen lassen! Und heim gelaufen wäre sie auch noch alleine hätte ich sie nicht gebracht! Das ist gefährlich, verstehst du das?“

 

Edgar schien seinem Sohn aufmerksam zuzuhören, sagte aber nichts. Rick machte das umso wütender. Also sprach er sich jetzt auch seine anderen Bedenken von der Seele.

 

„Und dann, so ganz nebenbei erfahre ich, dass ich noch einen kleinen Bruder habe! Was nicht mal das Schlimmste ist, viel schlimmer finde ich, dass Allegra, so erwachsen sie auch sein mag, scheinbar immer den Babysitter für Loic spielen muss! IHR habt euch entschlossen nochmal Kinder zu bekommen, Loic ist EUER Sohn.

Ihr könnt nicht von einer Zehnjährigen erwarten, dass sie ihn beaufsichtigt. Wenn ihr zu alt seid, um mit der Erziehung klarzukommen, dann holt euch Hilfe, dafür gibt es wirklich genug Anlaufstellen. Aber ihr könnt sie nicht einfach mit fettigem Essen füttern und dem Chaos überlassen. Kinder brauchen Zuwendung, geordnete Abläufe, Aufmerksamkeit, feste Rituale und Regeln! Dass ihr sie liebt und vergöttert das ist mir klar. Aber das reicht eben nicht ganz. Schau dir Loic doch an, er und sogar sein Gast laufen den ganzen Tag im Schlafanzug herum. Das tut ihnen zwar nicht weh, aber was sollen denn Theas Eltern denken, wenn sie ihr Kind im Pyjama abholen kommen? Habt ihr das überhaupt bemerkt? Vater, nimm es mir nicht übel, aber ich habe den Eindruck ihr seid mit der Situation überfordert. Und ich kann nicht zulassen dass meine Geschwister auch im Chaos aufwachsen wie ich. Hätte Violetta mich damals nicht angetrieben, wäre ich nicht mal aufs College gegangen!“

 

Nach dieser Rede musste Rick erstmal verschnaufen. Sein Vater hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugehört ohne ihn zu unterbrechen. Er schaute seinem Sohn direkt in die Augen, aber was in seinem Kopf vorging, konnte Rick beim besten Willen nicht sagen. Hatte sein Vater überhaupt verstanden, was er ihm da grade vorgetragen hatte? Denn im Moment schaute er ihn einfach nur ausdruckslos an. Nach einem Augenblick fing Edgar mit leiser Stimme an zu sprechen.

 

„Ich denke, ich muss dich erst einmal aufklären. Allegra war heute Mittag keineswegs alleine im Park. Ich war die ganze Zeit in der Nähe, ich habe euch von Weitem beobachtet, bis ich sicher war, dass sie dich gefunden hatte. Ich wollte sie eigentlich nur mitnehmen, damit du sie kennen lernen kannst. Wie du sicherlich gemerkt hast, hat deine kleine Schwester ein sehr einnehmendes Wesen und ich dachte mir, dass ihr euch versteht. Aber das konnte ich mir direkt abschminken. Sie meinte >Papa, ich mach das schon.< Weißt du, sie war schon immer sehr aufgeweckt, musste alles sofort herausfinden und wollte alles allein machen. Die Erzieherinnen im Kindergarten dachten ähnlich wie du, wenn wir die Kleine damals in bunt zusammen gewürfelten Klamotten und falsch zugeknöpften Hemdchen in der Kita abgeliefert haben. Wir haben oft zu hören bekommen wir seien zu alt um ein Kind richtig zu betreuen. Nur: Wenn Allegra beschließt sich alleine anzuziehen und im Hochsommer ihre Wintermütze aufzuziehen … Versuch mal ihr das auszureden. Da kommt selbst diese Supernanny nicht gegen an. Sie ist unglaublich entschlossen und lässt sich nicht reinreden, das hat sie noch nie und das haben deine Mutter und ich auch immer untersützt. Wir sind froh, dass sie so selbstständig ist und weiß, was sie will. Loic ist da ganz anders, er hat andere Eigenschaften die wir genauso lieben, aber er braucht besonders bei den Hausaufgaben noch sehr viel Hilfe. Jedes Kind ist nun einmal verschieden. Deshalb haben wir unsere kleinen Taktiken entwickelt, wie wir Allegra frei handeln lassen und sie dennoch beschützen können. Klar muss man da mit Vorurteilen kämpfen. Oder was glaubst du wie es aussieht, wenn ein alter Mann heimlich hinter einem Mädchen herläuft um es zu beschatten? Ich bin ja auch froh darum, dass unsere Mitmenschen so aufmerksam sind. Aber wir können nicht jedem Passanten und jeder Erzieherin erklären, dass wir nochmal im hohen Alter Eltern wurden und eben unseren eigenen Erziehungsstil haben. Sowieso habe ich das Gefühl, die Menschen mischen sich heute viel schneller in die Erziehung anderer ein als früher. Nun ja, so ist das eben. Aber deine Mutter und ich haben lange nachgedacht und es so für das Beste befunden. Wir sagen Allegra auch ständig, dass sie Freunde einladen und mit ihnen spielen soll, aber sie war eine Zeit lang der Meinung, dass niemand Loic so gut krabbeln, laufen, malen und sprechen beibringen konnte wie sie. Sollten wir es ihr verbieten? Wir freuen uns, dass die beiden so ein gutes Verhältnis zueinander haben und Loic hat es nicht geschadet, von Allegra zu lernen.

Was die Pyjamas angeht: Thea übernachtet heute bei Loic und nachdem die beiden draußen im Matsch gespielt haben hat deine Mutter sie gebadet und direkt in die warmen Pyjamas gepackt. Das machen Theas Eltern auch so, wenn Loic bei ihnen übernachtet. Die beiden wühlen in jedem Fleckchen Dreck herum, am Ende des Tages erkennt man sie kaum noch unter der Schlammschicht. Sie laufen nicht den ganzen Tag im Schlafanzug herum. Auch wenn man es uns nicht glaubt, aber wir haben das mit der Erziehung wirklich im Griff.

 

Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mich freut, dass du dich so um deine Geschwister sorgst. Wir dachten, du würdest sie ablehnen, weil du wohl noch sauer auf uns bist. Dazu hast du natürlich auch jedes Recht. Deine Mutter und ich wissen, dass wir in deiner Kindheit alles mögliche falsch gemacht haben, wir waren so fokussiert auf unsere Arbeit, dass wir dich dabei vernachlässigt haben. Das ist unverzeihlich, das wissen wir. Wir haben das begriffen, wir verstehen dich da vollkommen und glaub mir Rick, ich kann nicht in Worte fassen, wie Leid uns das tut. Wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten, wir würden es sofort tun. Aber das geht nicht und als wir gemerkt haben, wie gut dir der Abstand zu uns tut, wollten wir dir jeden Freiraum lassen, den du brauchtest. Wie schnell hast du dich mit Violetta verlobt, sie macht dich glücklich und brachte dich dazu, an dich selbst zu glauben. Wir wussten zwar, dass du ein sehr intelligenter Junge warst aber wir konnten dir das irgendwie nie so richtig vermitteln. Ich hoffe wir haben es bei Allegra und Loic besser gemacht. Wir waren so froh, als wir gemerkt haben wie gut es dir mit Violetta ging. Und natürlich haben wir über das Institut auch von deinen hervorragenden Noten und deinem Rückzug nach Desiderata erfahren, aber weißt du, deine Mutter und ich hatten das Gefühl, wir waren wie Gift für dich, je weniger du mit uns zu tun hattest, desto besser ging es dir. Wir haben zwar immer gehofft, dass du irgendwann wieder auf uns zukommen würdest, aber wir wollten dir die Zeit lassen, die du dafür brauchst. Es tut uns wirklich unendlich Leid, ich kann mich nicht genug entschuldigen. Aber wir sind unglaublich Stolz auf dich, mein Sohn. Und wenn du denkst, du kannst deinen Geschwistern noch etwas beibringen und sie unterstützen, unsere Tür steht jederzeit offen. Du kannst sie und uns besuchen sooft du nur willst. Weißt du, die Kleinen vergöttern dich, wir haben ihnen fast täglich die Bilder von dir gezeigt. Wenn es dir nicht zu viel wird löchern sie dich garantiert mit Fragen."

 

Rick war sprachlos. Er dachte seine Eltern würden senil und er müsste sich nun um seine Geschwister kümmern. Stattdessen kam ihm sein Vater erwachsener, verantwortungsvoller und menschlicher vor als je zuvor. Rick konnte nicht einmal mehr eifersüchtig sein, weil sie das nicht schon während seiner Kindheit begriffen und verbessert hatten. Er war einfach nur froh, seine Geschwister in guten Händen zu wissen und mit seinem Vater zum ersten Mal in seinem Leben richtig gesprochen zu haben. Auch Rick begriff, dass die Schusseligkeit seiner Eltern vielleicht einfach nur eine besondere Art der Liebenswürdigkeit war, und dass man sich eben nicht vor all seinen Mitmenschen andauernd erklären und rechtfertigen kann. Man muss es vor allen Dingen auch nicht. Rick war so erleichtert wie noch nie zuvor, er wusste nur grade nicht wie er das ausdrücken sollte. Vielleicht hatte er diesen Charakterzug von seinen Eltern geerbt. Weil er nicht die richtigen Worte finden konnte, fragte er das Einzige, was im grade in den Sinn kam: „Ihr habt Bilder von mir?“

Edgars Gesicht leuchtete begeistert auf. „Oh ja, aber natürlich! Ich muss zugeben, bis du zur Uni bist waren sie noch wie Kraut und Rüben durcheinander gewürfelt, aber da ich jetzt in Rente bin habe ich abends die Zeit gefunden, sie zu sortieren. Ich habe zwei Alben zusammengekriegt, magst du sie mal sehen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten sprang Edgar auf, holte ein braunes und ein buntes Fotoalbum aus dem Regal und setze sich zu Rick auf die Couch. Er schlug das braun gebundene auf und begann stolz zu erzählen: „Schau, ich habe das chronologisch angeordnet, so konnte ich den Kindern die Geschichten auch in der richtigen Reihenfolge erzählen.“

„Geschichten?“

„Ja, also zum Beispiel hier, als du deinen neuen Basketballkorb bekommen hast.“ Er deutete auf ein Bild von Rick im Alter von circa zehn, wie er konzentriert versuchte, den Ball in den Korb zu befördern. Das Foto schien vom Küchenfenster aus gemacht worden zu sein, Rick hatte das damals gar nicht bemerkt. „Ich habe natürlich nicht erzählt dass du die ersten Paar Wochen nicht einen Treffer versenkt hast. Loic denkt also du seist der reinste Basketballprofi“, zwinkerte ihm sein Vater zu. „Die Babybilder konnte ich allerdings nicht verheimlichen, deine Geschwister haben also auch deinen nackten Babypopo gesehen.“ Edgar schlug das andere, buntere Album auf und blätterte schnell zu einer Seite vor, die den etwa einjährigen Rick in der Badewanne zeigten, mit nassen, abstehenden Haaren und einem großen Schaumbart am Kinn. „Das weißt du natürlich nicht mehr, aber da habe ich deine Haare zu einer Zipfelmütze kämmen wollen damit du aussiehst wie ein kleiner Nikolaus. Deine Mutter hat mich ganz schön geschimpft, weil du schon ganz aufgeweicht und verrunzelt warst, als ich dich fertig gebadet hatte.“

So saßen die beiden erwachsenen Männer im Wohnzimmer und schauten sich die Bilderalben an. Irgendwann klopften Loic und Allegra an der Tür und fragten, ob sie auch mitschauen dürften. Loic ließ dafür sogar seine kleine Freundin sitzen, die spielte in der Zeit mit Olga Memory. Erstaunlicherweise konnten Ricks Geschwister sogar noch viel mehr Geschichten zu den Bildern erzählen als Edgar. Scheinbar waren diese Fotoalben wie Gute-Nacht-Geschichten für die Geschwister gewesen, denn Loic erzählte von Rick wie von einem Superhelden und Allegra konnte alle witzigen Anekdoten wiedergeben. Anekdoten, an die Rick sich nicht einmal selbst erinnern konnte. Sogar von seiner Abschlussfeier am College hatten seine Eltern Fotos ergattert - Rick hatte stark Paulas Eltern in Verdacht - und eingeklebt.

 

Als Allegra, Loic und Thea später im Bett waren, setzte sich Rick noch mit seinen Eltern an den Tisch, aß mit ihnen die aufgewärmten Makkaroni und den Salat, den Olga wirklich lecker zubereitetet hatte und erzählte seinen Eltern, was er auf dem College und in der WG am Strand alles erlebt hatte. Auch Olga entschuldigte sich nochmal bei Rick, dass sie vor zehn Jahren Briefe an Rick geschickt hatte, in der jede Zeile von Allegra gehandelt hatte. Olga erklärte, dass sie zu der Zeit dachte, sie könnte ihm so seine kleine Schwester näher bringen. Dass sie dann aber gemerkt hätte, dass sich Rick dadurch komplett ersetzt gefühlt haben muss und ihm deshalb nichts von einem weiteren kleinen Geschwisterchen erzählen wollte. Rick bekam auch langsam Schuldgefühle, weil auf keinen Brief seiner Mutter mehr reagiert, aber weiterhin das Studiengeld einkassiert hatte. Als Student dachte er noch, er sei im Recht, weil seine Eltern ihn vernachlässigt hatten und jetzt mit dem neuen Baby einen auf heile Familie machten. Hätte man sich damals schon ausgesprochen, wäre vieles anders glaufen. Das sagte er auch seinen Eltern, aber Edgar meinte, es sei grade für junge Menschen manchmal notwendig, eine Weile auf Abstand zu gehen um sich abzunabeln und selbst zu finden. Sowohl Edgar als auch Olga sagten Rick noch einmal, wie stolz sie darauf wären, was Rick aus sich selbst gemacht hatte.

 

 

Als Rick spät nach Mitternacht zurück zur Strandhütte fuhr, wurde ihm klar, dass er diesen schönen Tag ohne Violetta nicht erlebt hätte. Trotz ihres Schicksalsschlages hatte sie ihn dazu motiviert, ihm nahezu befohlen, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Seit ihrer Kindheit brachte dieses Mädchen ihn immer dazu, das Richtige zu tun. Sie wusste, was er brauchte und was ihn glücklich machte, obwohl er eigentlich nie darüber sprach. Rick fragte sich, ob so Seelenverwandtschaft aussehen würde? Er dachte noch lange über diese Frage nach. Und wenn er nicht noch Tage danach daran gedacht hätte, wäre das Ein oder Andere sicherlich anders abgelaufen …