Viele, viele Kinder

„Wir haaaaaben Hunger, Hunger, Hunger, wollen Burger, Burger, Burger, Burger und zum Nachtisch, Nachtisch, Nachtisch noch ein Eis! Wir haaaa- …“

 

„Ist ja gut! Ich mach doch schon so schnell ich kann!“, versuchte Rick gegen die Meuterei seiner Kinder anzukämpfen.

Violetta beobachtete den Kampf ihres Mannes nur und amüsierte sich schweigend darüber, wie er verzweifelt versuchte, all die hungrigen Kindermünder gleichzeitig zu stopfen. Sie war ihm natürlich dankbar, dass er heute das Abendessen übernahm, aber Rick war wegen seiner Einsätze oft mehrere Tage unterwegs und bekam gar nicht richtig mit, was es bedeutete, den Haushalt mit fünf Kindern zu führen. Noch dazu arbeitete Violetta wieder im Stadtrat seit die Zwillinge endlich auch in der Schule waren, die Wahlen standen bevor, und oft wusste Violetta einfach nicht, wo ihr der Kopf stand. Es konnte ihrem Mann also nicht schaden, wenigstens einen Abend mal ebenso ins Straucheln zu kommen, wie sie es tagtäglich tat. Andererseits wollte sie auch nicht zu fies sein, schließlich war sie auch nicht unbeteiligt an ihrer großen Kinderschar, und hatte sich genau das immer gewünscht? Ein Esstisch, umringt von kleinen Ebenbildern von ihr und Rick, die nach einem langen, ereignisreichen Tag in der Schule und dem Herumtoben im Garten nicht genug zu Essen bekommen konnten. Das war es, wonach sich Violetta schon als Kind gesehnt hatte, und sie wollte nicht einen Moment darüber klagen. War dies nicht der Inbegriff einer großen, glücklichen Familie? Trotz mancher schwerer Tage wollte sie sich immer im Bewusstsein halten, wie viel Glück sie doch mit ihrem Mann und ihren wundervollen Kindern hatte.

„Papa, probierst du nachher noch mit mir die neue Schaukel aus? Biiiiiiiiiiitte!“, bettelte Luise ihren Vater mit großen Kulleraugen an. Sie war das Dritte der Kinder und nicht grade auf den Kopf gefallen. Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester Amara liebte sie es zwar, rosa Kleidchen anzuziehen und bestand täglich auf ihre Blumenspangen im Haar, was sie unschuldig und süß aussehen ließ, aber sie wusste genau, wie sie die Leute dazu bringen konnte, dass sie das machten, was sie sich vorstellte. Violetta hatte mittlerweile ihre Tricks, wie sie ihr mittleres Kind durchschauen konnte, aber Rick konnte dem Dackelblick seiner jüngsten Tochter nicht standhalten. „Aber … aber Prinzessin … es ist doch schon stockdunkel draußen. Am Ende fällst du noch von der schönen neuen Schaukel runter!“, versuchte er nicht grade überzeugend gegen Luises Wunsch zu argumentieren. Rick hätte eigentlich wissen müssen, dass daraufhin ein heftiger Protest folgen würde. „Papa, ich bin doch kein Baby mehr!“, echauffierte sich Luise ganz unprinzessinnenhaft, „Samu und Levi sind hier die Babys, die müssen auch viel früher ins Bett als ich!“ Violetta sog die Luft ein. Sie ahnte, was jetzt kommen würde.

Und tatsächlich, keine viertel Sekunde später feuerte Samuel sein Besteck - mit dem er sowieso mehr schlecht als recht essen konnte und es trotz seines Alters nur benutzte, weil seine Mutter Wert auf gute Tischmanieren legte – klirrend auf den Teller, kniete sich auf seinen Stuhl und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab, sodass er mit seinem kleinen Gesichtchen fast bis an das seiner großen Schwester heranreichte. Dass er dabei seinem Zwillingsbruder den Burger vom Teller fegte, war Samuel entweder egal oder er bemerkte es gar nicht erst. Er war schon immer der impulsivere der Zwillinge gewesen, nahm kein Blatt vor den Mund und sagte immer frei heraus was er dachte. Das bedeutete aber nicht, dass er keine Rücksicht auf andere nahm, im Gegenteil. Er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und stellte sich schon seit dem Kindergarten schützend vor seinen schüchternen Zwillingsbruder, wenn andere Kinder diesen wegen seiner Brille gehänselt hatten. Samuel war wild, keine Frage, aber er war ein guter Junge. Vielleicht sagte Levin deshalb kein Wort als er seinen Burger vom Boden aufhob und vor seinem wilden Zwilling in Deckung ging. Denn der wetterte auch schon los: „Ich bin gar kein Baby! Du bist selbst ein Baby! Lui-Baby, kleines Baby, ist ja nur ein – “ Samuel suchte nach einem beleidigendem Reim, aber Luise ließ ihn gar nicht erst ausreden. „Denk doch mal nach, du kleiner Pimpf, ich bin viel älter als du, ich kann nicht das Baby sein. Mann, Samu, du bist echt doof!“ Zufrieden mit ihrem durchdachten Gegenargument legte die Kleine ihr eigenes Besteck ordentlich und damenhaft neben ihren Teller, als wolle sie ihrem kleinen Bruder demonstrieren, wie man sich gesittet benahm. Samuel verstand diese Geste sehr wohl und sprudelte über vor Wut. Sämtliche Alarmglocken in Violetta schrillten, Rick spürte, dass etwas in der Luft lag, war aber zu perplex um zu handeln, Amara schaute wie der verängstigte Levin nur zu und Luise saß immernoch hoch erhobenen Hauptes auf ihrem Stuhl und lächelte süffisant über Samuel, der sich mit seinen zierlichen aber kräftigen Beinchen vom Stuhl stemmte und im Begriff war, quer über die Tischplatte zu springen um Luise die Augen auszukratzen. 

 

Plötzlich merkte der Kleine aber, dass er mit den Armen in der Luft ruderte und sich keinesfalls dem hübschen Gesicht seiner Schwester nährte. Starke Hände umfassten seinen Oberkörper und hielten ihn in der Luft. Grade noch rechtzeitig hatte Tristan reagiert und so verhindert, dass sich nicht nur Samuel eine schlimmere Verletzung zuzog, sondern auch noch der Rest seiner Familie von einem zersplitternden Glastisch berieselt wurde. Der Teenager schnappte sich seinen zappelnden kleinen Bruder, warf ihn liebevoll über die Schulter und meinte „Hey, Kumpel, an deinen Tischmanieren müssen wir aber noch arbeiten.“ Er klopfte Samuel beruhigend auf den Rücken, wohlwissend, dass das eigentlich gar nichts bringen würde und sagte noch: „Mum, ich bring den kleinen Vulkan hier mal nach draußen, ich glaub der muss abkühlen.“ Violetta atmete erleichtert auf. „Danke mein Schatz, du bist unser aller Retter!“ „Jo, Mum, ich weiß“, grinste Tristan nur und bewegte sich lässig mit dem strampelnden Bruder über der Schulter in Richtung Wohnzimmer. Grade im letzten Moment bündelte der geschulterte Samu seine Energien und krakeelte "... Oberblödi!!!" in Luises Richtung. Ihm war also noch ein passender Reim eingefallen.

Tristan wollte ja eigentlich die Fassung wahren aber bei diesem energischen Kommentar konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen. Er schleuderte Samuel sanft von seiner Schulter auf das Sofa, woraufhin der Kleine natürlich sofort wie ein Flummi aufsprang und wieder in Richtung Luise türmen wollte. "Hiergeblieben, Bruderherz," sagte Tristan und hielt den Wirbelwind fest. "Herrje, wenn du irgendwann deine freigesetzen Energien zu nutzen lernst, kann aus dir echt was werden. Aber lass dich nicht ärgern, okay Kumpel?" "Aber Lui ...", setzte Samuel an. "Ich weiß", beschwichtigte Tristan ihn, "ich weiß." Wie auf Kommando hörten sie Luises Stimme aus dem Esszimmer: "Mama schau mal, Samu ist mit seinen Schuhen auf dem Sofa!"

Blitzschnell schmiss Tristan seinen Bruder wieder über seine Schulter und trug ihn auf die Terasse. Samuel hämmerte dabei mit seinen kleinen Fäustchen auf den Rücken des Teenies ein und ließ eine ganze Schimpftriade à la „Lui-Baby, du Oberblödi!“ los. Selbst durch die geschlossene Terassentür konnten die Anderen Samuel noch wettern hören bis Tristan ihm schließlich androhte, ihn mitsamt Klamotten in den Pool zu werfen. Violetta wusste, dass ihr Ältester das schnell wieder in den Griff kriegen würde. Natürlich sollten die älteren Kinder nicht permanent als Babysitter für die jüngeren fungieren, aber ihre beiden Großen machten das tatsächlich von sich aus und es war einfach zu goldig, wie besonders Tristan mit seinen jüngeren Geschwistern umging. Nicht umsonst saß er bei Tisch stets neben Samuel. Dennoh müsste sie dem verantwortungsvollen Teenager wohl bald eine Taschengelderhöhung wegen seiner Bodyguarddienste zuteil werden lassen.

Tristan hatte relativ schnell nach Amaras Geburt die erste Eifersucht des älteren Geschwisterchens abgelegt und die Rolle des großen Bruders angenommen, obwohl Rick damals noch jeden Abend pünktlich von der Arbeit kam und immer ein guter und sich kümmernder Vater war. Tristan wollte aber unbedingt seiner Schwester das Gute-Nacht-Fläschchen geben. Durfte er das nicht, konnte er selbst nicht schlafen und kletterte so oft aus seinem Bett und schlich hinüber ins Babyzimmer, bis er sicher war, dass Amara gut schlief. Manchmal fanden ihn seine Eltern sogar schlafend auf dem kuscheligen Flusenteppich vor Amaras Gitterbettchen, wie einen kleinen Wachhund, der die Träume seines Schwesterchens beschützte. Als Luise geboren wurde, war Tristan zum Glück schon etwas größer, sodass es einfacher war, ihn mit einer Neugeborenen in einen Sessel zu setzen und ihn das Baby füttern zu lassen. Hier war es Amara, die dann eifersüchtig auf ihre kleine Schwester war und nachts zu Tristan ins Bett kroch, um sich an ihren großen Bruder zu kuscheln. Sie musste sich erst daran gewöhnen, dass da noch ein Geschwisterchen war, das ihr geliebter Bruder beschützen und umsorgen wollte, und verlor ihre Eifersucht erst sehr viel später, als sie und Tristan die beiden ältesten Geschwister waren, die sich gemeinsam um ihre kleine Schwester und die Zwillingsbrüder kümmerten. Violetta beobachtete die Rollenentwicklung ihrer Kinder stets wachsam. Eine Zeit lang zog dann auch eine Kinderpsychologin zur Rate, weil es ihr Sorge bereitete, wie Tristan immer mehr den Ersatzvater mimte, Amara sich das scheinbar abschaute und ihrerseits als Mutter in den Mutter-Vater-Kind-Spielen agierte. Die Psychologin bescheinigte, dass das eine ganz normale Entwicklung sei, dass sich Kinder besonders in größeren Familien die Stukturen der erwachsenen Familienmitglieder abschauen und auf kindliche Art umwandeln, und dass das alles vollkommen ok ist, solange die Kinder zudem separat von ihren Geschwistern mit gleichaltigen Klassenkameraden spielen und auch mal Zeit mit ihren Eltern alleine verbringen dürfen. Das war grundsätzlich kein Problem, Violettas Vater Marcel wohnte seit dem Tod seiner Frau allein im Joschke-Elternhaus und gab sein ganzes Geld fast ausschließlich für seine Enkel aus. Sein Garten glich einem riesigen Abenteuerspielplatz, in dem es von einem Schwimmteich bis zu einem Baumhaus wirklich alles gab, was das Kinderherz höher schlagen ließ. Und Tristan begnügte sich gerne mit seinen Kumpels am Billardtisch in der hauseigenen Sportsbar. Genug Betten und Spielzeug gab es sowieso, und man durfte bei Opa Marcel auch immer lange aufbleiben und Süßigkeiten essen. Die Kinder waren gerne bei ihrem Opa, und so konnten Violetta und Rick auch mal mit jedem Kind einzeln einkaufen oder ins Kino gehen, während sich der Rest in Marcels Kinderparadies begnügte.

 

 

Als die Zwillinge dann größer wurden, war Rick und Violetta klar, dass die kleine Strandhütte nicht mehr ausreichte. Ein neues und größeres Haus musste her. Das war wiederum verbunden mit viel Geld und das bekam man bekanntlich nur durch Arbeit, weshalb Rick Schulungen machte und umfangreichere Aufträge annahm. Violetta fragte hingegen beim Stadtrat an, ob sie ihren alten Posten wieder haben könnte. Wegen der Arbeit hatten sie nun nicht mehr so viel Zeit für ihre Kinder, erst recht nicht um mit jedem einzeln etwas zu unternehmen. Aber andererseits wollten sie ihnen eben auch alles bieten, sie nicht zu fünft in einem Zimmer zusammenpferchen oder einfache Klassenausflüge nicht bezahlen können. Im Laufe der Zeit hatten die jungen Eltern gelernt, dass kaum mal etwas nach Plan funktionierte, erst recht nicht bei fünf eingenständig denkenden, wunderbaren kleinen Persönlichkeiten. So war das nunmal. Sie taten einfach ihr bestes, liebten ihre Familie abgöttisch und genossen das, was ihnen gegeben war. Und dazu gehörten eben auch kleine oder größere Szenen am Esstisch, bei denen Essen am Boden landete, Kinder von Stuhl zu Stuhl sprangen, sich gegenseitig beschimpften und die Eltern einfach sprachlos dem lustigen Treiben zusahen.

So erging es auch Rick grade.

 

Er wusste ja, dass Samuel ein außergewöhnliches Temperament besaß, aber so hatte er seinen Sohn noch nicht erlebt.

„Seit wann tickt er denn so aus?“, fragte Rick noch immer erstaunt in die Runde.

Amara blickte ihren Vater nur lachend an und meinte: „Schon immer, Papa. Opa sagt, das hat er von Mami.“ Ricks Blick wanderte zu Violetta die ihn schuldig angrinste. „Oh“, rutsche ihm dann nur heraus, denn der ein oder andere Wutanfall Violettas kam ihm wieder in den Sinn. „Hat Opa aber auch erzählt, dass deine Mami die meiste Zeit über ist wie du, Amy?“ Rick legte einen Arm um seine Frau, schaute ihr in die Augen und sagte zu ihr und zu den Kindern: „Eure Mami ist nämlich schon immer für andere da gewesen, hat geholfen wo sie nur konnte und außerdem …“, er schielte zu Amara rüber und zwinkerte ihr zu, „ … außerdem war sie auch schon immer ganz schön frech.“

„Echt? Was hat Mami denn gemacht?“, wollte Amara wissen und rutschte in Erwartung einer spannenden Geschichte auf ihrem Stuhl hin und her. Sogar dem ruhigen kleinen Levin huschte ein Hauch von Neugier übers Gesicht, aber Violetta sah ihren Mann nur gespielt entsetzt an, stand hektisch auf und lenkte ab: „Jetzt ist aber genug mit der Erzählstunde. Wolltet ihr nicht noch mit Papa schaukeln?“ Rick riss die Augen auf und sah zu seiner Frau auf. „Na vielen Dank, liebstes Eheweib!“, kommentierte er noch, bevor er von drei seiner Kindern an nur zwei seiner Armen in den Garten gezerrt wurde. Violetta schmatzte ihm nur schadenfroh einen Luftkuss zu und begann den Tisch abzuräumen.

Die Schaukelpartie war nicht grade entspannend, Luise und Samuel bestanden darauf, jeweils als erste die Schaukel auszuprobieren und Rick dankte dem Himmel, dass er in weiser Voraussicht eine Doppelschaukel gekauft hatte. Tristan hatte es geschafft, Samuel soweit zu beruhigen, dass sich der Streit zwischen ihm und und seiner Schwester nur auf den Singsang „Lui-Baby, Oberblödi“ beschränkte. Luise rümpfte nur die Nase und erklärte, dass das keineswegs ein guter Reim war. Als Konter streckte Samuel ihr nach jeder Singsang-Schleife noch einmal herzhaft die Zunge raus.