Das Erwachsenen-Leben in Desiderata war allerdings nicht ganz so, wie Rick, Violetta, Daniel und Paula sich das vorgestellt hatten. Das Haus war zerfallener als sie erwartet hatten.
Es war zwar bewohnbar, aber durch die alten Fenster pfiff der Wind und immer mal wieder bröckelte ein Steinchen von der alten Wand. Die zusammengesuchten Studentenmöbel waren auch nicht grade die schönsten.
Immerhin funktionierte nach dem ewigen Hin und Her mit Bauamt, Notar und Gemeindeverwaltung der Strom und Telefonanschluss, und auch Kalt- und Warmwasser.
Man hatte ihnen im Laufe ihrer vielen Jahre auf der Schule so viel Unnützes beigebracht, aber wie schwierig es war, sich eine alte, zerfallene Strandhütte zueigen zu machen und sie einigermaßen herzurichten, das hatte ihnen niemand erklärt. Immer, wenn wieder eine Schwierigkeit anstand, drückte Rick seinen Freunden ein „Ich habs euch doch gesagt!“ auf die Nase. Aber letzten Endes war er doch froh, die Jahre auf dem College noch genießen zu können und jetzt mit den anderen zusammen die Hürden des Erwachsenenlebens zu stemmen. Dennoch wollte er seine Kinder besser auf das Leben vorbereiten, ihnen auch praktische Dinge beibringen, statt nur akademische Werte zu vermitteln. Davon konnte man sich seiner Meinung nach nämlich nicht ernähren, geschweige denn diesen alten Schuppen aufbauen.
Paula war schon von der Uni aus von sämtlichen Theatern, Musik- und Ballettschulen angeworben worden, die sie als nächste Primaballerina vermarkten wollten. Violetta hätte wieder einen Eifersuchtsanfall bekommen können. Sie wollte an ihr Studium anschließen und etwas in der leistungsorientierten Gesellschaft verändern. Deshalb begann sie ein Praktikum als Untersekretärin des Bürgermeisters. Hier war sie aber nicht nur das Mädchen für Alles, sie wurde in dieser Position trotz ihres hervorragenden Abschlusses auch noch miserabel bezahlt. Paula hingegen hatte schon ihr Studium von Förderern erstattet bekommen, ihre reichen Eltern steckten ihr sowieso ständig Geld zu und nun war sie die Bestverdienenste des ganzen Haushaltes und konnte sich unter ihren Engagements das beste aussuchen. Sogar den alten Gartenschuppen hatte sie zu einem persönlichen Hobby- und Übungszimmer umfunktioniert, denn sie musste sich immer gut auf ihre Auftritte vorbereiten. War es da verwunderlich, dass die kleine eifersüchtige Stimme in Violetta einfach nicht ruhig sein wollte?
Die Jungs des Hauses interessierte es zwar nicht wirklich, wer von ihnen nun am meisten verdiente. Solange es für Essen, Rechnungen und den Umbau reichte, war ihnen egal, wer den besten Job hatte. Vielleicht hätte eine Frau Violettas Neid eher nachvollziehen können, aber außer Paula hatte Violetta keine weibliche Ansprechperson, mit der sie so etwas besprechen konnte. Und ihrer kleinen Wahlschwester selbst wollte sie natürlich nicht sagen, dass sie oft neidisch auf sie war. Also fraß Violetta ihren Frust erneut in sich hinein. Paula war zum Glück sehr feinfühlig und fair veranlagt, was sie offensichtlich von ihrem Vater hatte. Sie steckte viel ihres schon angesparten Vermögens in die Renovierung des Hauses und packte genauso viel beim Umbau mit an, wie die anderen. An manchen Tagen schaffte die zierliche Ballerina es sogar, noch länger die Holzbalken zu bearbeiten, den Boden zu schleifen oder die alten Rohre aus den Wänden zu klopfen als die Herren im Haus. Violetta war beeindruckt, dass Paula doch nicht so prinzessinnenhaft war, wie es den Anschein machte und wieder etwas milder gestimmt. Die schwesterliche Beziehung der beiden festigte sich immer mehr. Daniel hatte durch sein duales Studium seinen Job in der Meeresbiologie an Edgar Konträrs Institut schon sicher, er und seine Freundin mussten sich finanziell also erstmal keine Sorgen machen. Bei Rick war es komplizierter, er hatte nie eine genaue Vorstellung gehabt, was er werden wollte und sah, wie seine Verlobte sich in ihrem Job abquälte. Er wollte sich nach einem gut bezahlten Job umschauen um sie zu unterstützen. Außerdem machte er sich Sorgen, Violetta würde sich zu sehr unter Druck setzen, dadurch krank werden und ihr Ziel nie erreichen. Deshalb bewarb er sich sofort, als er eine offene Stelle als Polizeitrekrut mit Aufstiegschancen bei seiner Suche in den Stellenanzeigen sah, auf eben diese Stelle. Noch dazu wurde ein hohes Einstiegsgehalt versprochen. Er war fit und konnte einiges ab. Die örtliche Polizei war sowieso komplett unterbesetzt und suchte händeringend nach neuen Anwärtern. Sie nahmen ihn gerne. So konnte Rick seiner Zuknftigen eine große Stütze sein, während sie an ihrem Traum arbeitete.
Nach den ersten Jahren des Sparens und Renovierens, wurde das kleine Holzhäuschen an Desideratas Strand ein recht gemütliches, wenn auch nicht großes Heim.
Im unteren Stockwerk war der große Wohnraum mit Sofalandschaft, Essbereich und offener Küche.
Im oberen Stockwerk hatte jedes Pärchen sein eigenes Schlafzimmer und hier war das zweite Badezimmer mit Wanne.
Über der Terasse wurde noch ein zusätzliches Gästezimmer angebaut, wo locker zwei bis drei Besucher übernachten konnten. In einer jungen WG mit regelmäßigen Partys hielt man das für notwendig.
Außerdem hatten die Mädels einen großen Spiegelschrank im Flur aufgestellt, denn ihre Schuhe brauchten ja Platz!
Sie hatten die Atmosphäre der Strandhütte beibehalten wollen, aber alles modernisiert. So waren alle Fenster und Türen ersetzt worden und die Wände abgedichtet und so verputzt, dass nicht beim kleinsten Windhauch die halbe Wand herunter kam.
Das untere Badezimmer war zwar recht klein, aber bei vier Erwachsenen im Haus konnte es morgens hektisch werden. Also baute man auch hier eine luxuriöse kleine Dusche ein.
Obwohl keiner der drei besonders gut kochen konnte, gönnten sie sich eine moderne Küche.
Entweder lag es an der Küche mit Meerblick oder die naturverbundenen Gene der Konträrs kamen langsam in ihm durch, jedenfalls hatte Rick - wie sein Vater Edgar - Gefallen am Angeln gefallen gefunden. Daniel als Meeresbiologe hatte angefangen, Rick, der seinen Vater immer für sein Hobby belächelt hatte, mit an Seen und das Meer zu schleppen. Anfangs genoss Rick nur die Auszeit in Gesellschaft seines ruhigen Kumpels und begleitete Daniel deshalb so gerne. Aber nach seinem ersten großen Fang war er so begeistert, dass er ständig an irgendeinem Wasserloch herumfischte. Alle gefangenen Fischlein erlöste er rasch und bereitete sie in der neuen Küche zu.
Rick war Feuer und Flamme, probierte immer neue Rezepte aus und hängte sich seinen bis dahin größten Fang sogar ausgestopft über die Küchentheke, was außer ihm aber keinem im Haus besonders gut gefiel.
Sie ließen ihm diese Dekoration jedoch, er hatte noch nie ein besonderes Hobby gehabt und seine Freunde merkten, dass er sehr stolz auf seine neuen Angelkenntnisse war.
Zudem waren seine Mitbewohner froh daüber, täglich eine frische Mahlzeit, auf dem Tisch zu haben ohne auch nur einmal in der Küche stehen zu müssen. Die war in den letzten Wochen zu Ricks Territorium geworden. Irgendwann hing der ewige Fisch aber doch allen dreien zum Halse heraus.
Eines Abends roch man wieder schon beim Betreten des Hauses die gefüllte Goldforelle, und Paula rutschte heraus, ob Rick sie langsam alle vergiften wolle. Der war höchst empört und ließ sich nur besänftigen, indem man sein kulinarisches Meisterwerk lauthals lobend genoss. Allerdings zum letzten Mal für sehr lange Zeit. Denn prompt lag am nächsten Tag die gesamte Bewohnerschaft des Hauses flach.
Rick bestand darauf, dass es nicht an seinem großartigen Fang lag, sondern wohl eher an dem neuen Schnellimbiss, den sie am Mittag ausprobiert hatten.
Trotzdem bekam er für die nächste Zeit striktes Angelverbot. Und Kochverbot auch. Das sei sogar das wichtigste, meinten die Frauen des Hauses.
Nach einigen Tagen ging es allen wieder besser, nur Violetta musste sich ständig noch übergeben. Und das sogar peinlicherweise auf der Arbeit. Was musste der Bürgermeister denken, wenn seine Untersekretärin gurgelnd und spukend auf dem Klo verschwand? Das konnte sie nicht bringen und vereinbarte deshalb einen Termin beim Arzt. Über eine andere Ursache ihrer Übelkeit hatte sie bis dato noch gar nicht gedacht. Umso überraschter war sie, als der Arzt ihr verkündete, sie solle die nächsten Monate Abstand von Fisch halten, besonders von rohem. Ebenso von Alkohol, Zigaretten und Rohmilchkäse. Violetta freute sich unglaublich, immerhin hatte ihr Rick schon auf der Uni vier Kinder versprochen und sie arbeitete mitunter auch deshalb so hart, weil sie für ihre künftige Familie genug auf die hohe Kante legen wollte. Aber sie wollte eigentlich verheiratet sein, bevor sie ein Kind in die Welt setzte. Wenn sie ihrem Liebsten die frohe Botschaft überbrachte, könnte sie das ja auch mal anschneiden.
Direkt nach dem Termin ging sie voller Vorfreude los, um ein paar erste Babyartikel zu kaufen. Sie wollte sie mit dem ersten Ultraschallbild zusammen packen und Rick überreichen. In einem Geschäft für Umstands- und Babymoden fand sie unglaublich goldige Söckchen mit kleinen Äffchen darauf. Wer konnte da schon widerstehen? Noch in dem Laden ließ sie das Geschenk einpacken. Die Verkäuferin sah das Glück aus Violettas Augen strahlen und half ihr gerne bei der Überraschung. Die beiden hatten eine Menge Spaß an der Kasse und zum Abschied gab ihr die nette Frau noch gratis einen süßen Sticker, auf den sie „Für meinen größten Schatz“ schrieb und dann an die bunte Schleife klebte.
Als Violetta das Auto auf dem Carport abstellte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ob vor Freude oder Aufregung wusste sie nicht genau.
Sie musste sich auf dem kurzen Weg zur Haustür ganz schön zusammen nehmen, um das Zittern zu unterdrücken und nichts fallen zu lassen oder gar zu stolpern.
Schon vom Weg aus spähte sie in die großen Fenster hinein. Und blieb wie angewurzelt stehen.
Da saßen sie wieder. Zusammen. Ihr Verlobter und ihre selbst auserwählte kleine Schwester und redeten offensichtlich sehr ernst miteinander. Nicht streitend, sondern vertraut.
Eifersucht leckte an Violettas Eingeweiden. Hatten sie in den letzten Jahren, während Studiums und des gemeinsamen Umbaus nicht ein festes Band geknüpft? Sowohl zu Rick als auch zu Paula? Hatte sie sich in all den Jahren nun doch getäuscht? Und warum, warum kam das ausgerechnet heute heraus? Es sollte doch einer der glücklichsten Tage ihres Lebens werden.
Violetta wollte schon die Tür aufstoßen und hineinstürmen, als die beiden sie draußen stehen sahen und sie direkt anblickten. Sie blieben dennoch ruhig sitzen. Violetta wurde skeptisch. Wenn sie sie bei etwas erwischt hätte, wären sie doch nicht so ruhig geblieben? Die Situation damals vor dem Wohnheim kam ihr wieder in den Sinn. Da hatte sie Rick und Paula auch zu Unrecht angeschrien. Sie atmete tief durch und öffnete die Tür.
Sie musste ruhig bleiben. Der Arzt hatte gesagt, dass ihr Körper Hormone ausschütten würde, die sie sehr emotional werden lassen würden. Sie wollte nicht eine dieser hysterischen Schwangeren sein, die den Vater des Kindes nur dazu abkommandiert, Schokoladeneis oder saure Gurken zu besorgen und die bei jeder Kleinigkeit in die Luft geht. Das Klischee wollte sie sicher nicht erfüllen und Wehleidigkeit konnte Violetta sowieso noch nie abhaben. Sie war schließlich schwanger, nicht krank. Außerdem würde sich Rick wohl gut überlegen, noch weitere Kinder mit ihr zu zeugen, wenn sie beim ersten schon monatelang unerträglich sein würde. Ruhe bewahren. Erstmal abwarten. Ist bestimmt gar nicht so schlimm. Sie versuchte sogar zu lächeln.
„Na Leute, alle schon daheim?“, kam ihr so locker wie möglich über die Lippen.
„Liebling, setz dich bitte mal zu uns“, sagte Rick.
Violetta setzte sich neben ihren Verlobten, ihre Augen wanderten von einem zum anderen. Sie spürte, dass das hier wirklich ernst war. Und sie bekam furchtbare Angst.
Rick begann: „Vi, es ist was passiert.“ Vor wenigen Minuten war sie noch so glücklich gewesen. All die Vorstellungen von ihr, Rick und dem Baby, dem Anfang einer glücklichen Familie wich nun der Horrorvorstellung mit ihr als alleinerziehende Mutter, während Rick mit der jüngeren Paula zusammen war. Sie musste sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Mit erstickter Stimme konnte sie nur noch hervorbringen: „Sag schon.“
Rick nahm ihre Hand und sah sie an. Dann fuhr er fort: „Dein Vater hat vorhin angerufen, Vi. Es gab einen schrecklichen Unfall in eurem Garten. Deine Mutter wollte wohl Gartenabfälle verbrennen und dabei haben die Kunstfasern ihres Trainingsanzuges Feuer gefangen. Marcel ist gleich zu Hilfe gekommen, als er ihre Rufe hörte. Aber Feuerwehr und Notarzt meinten, die Verbrennungen waren zu schwer. Sofie hat es nicht geschafft.“
Auf diesen Satz folgte minutenlange Stille. Violetta starrte nur völlig regungslos gradeaus aus dem Fenster. Sie wusste nicht, was sie tun oder fühlen sollte. Wie war das möglich? Ihre Mutter war immer gesund und fit. Ihr konnte doch nichts und niemand etwas anhaben? Und jetzt? Wegen ein paar dummer Laubhaufen? Was sollte das? Das konnte nicht sein! Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Sie brauchte die Dunkelheit in ihrem Kopf. Sie musste träumen. Das war alles nicht real. „Mach die Augen zu. Du träumst. Mach alles dunkel. Dann wirst du merken, dass alles nur ein böser Traum ist“, redete sich Violetta ein.
Rick und Paula wussten nicht, was sie tun oder wie sie auf diese Schockstarre reagieren sollten. Niemand von ihnen war jemals in so einer Situation gewesen. Und selbst wenn, wer wusste schon, was man nun tun sollte? Also blieben sie einfach still sitzen, schwiegen und waren einfach nur da. Rick hielt seine Verlobte fest im Arm.
Plötzlich stand Violetta auf. Sie blieb einen Moment kerzengerade stehen, sah geradeaus und sprach eher zum Fenster, als zu ihren Freunden: „Drei Dinge müssen jetzt erledigt werden. Erstens: Ich kümmere mich um die Beisetzung. Mein Vater soll das nicht tun müssen. Zweitens: Rick, du rufst sofort deine Familie an. Triff dich endlich mit ihnen. Drittens: Wir heiraten. Sobald wie möglich. Und mein Vater wird eingeladen.“ Dann ging sie in Richtung Treppe davon.
„Violetta! Warte doch mal!“ Paula wollte sie aufhalten. Sie wusste zwar nicht wie sich ihre schwesterliche Freundin jetzt fühlte, aber dass sie nicht einmal weinte, beunruhigte sie.
Violetta blieb kurz stehen, schaute aber weiter auf die Treppenstufen und sah sie nicht an. Paula sah Rick an und gab ihm Zeichen „Tu doch etwas!“, aber Rick wusste genau was seine Verlobte gemeint hatte. Sie hatte Recht.