Die Jugend von heute

 

„Komm schon Vi, nimm ab!“, bettelte Rick in den Telefonhörer. Er kam gerade völlig fertig von seinem Schülerjob und war überzeugt, der Tag könne nicht mehr schlimmer werden. Am anderen Ende hörte er ein Knacken, dann fragte seine beste Freundin um Luft ringend: „Joschke? Wer stört?“ Obwohl er eigentlich richtig mies drauf war, brachte ihn diese Frage zum Grinsen. Sie schaffte es mit wenigen Worten und den kleinsten Gesten, ihn wieder aufzumuntern. Genau deshalb musste er sie jetzt sehen.

„Hast du Zeit? Ich muss mal hier raus.“ 

Violetta wirkte etwas überrumpelt. „Wie – sofort? Ich bin noch total verschwitzt, habe gerade trainiert …“

„Achso, ne. Schon gut. So wichtig ist es auch nicht“, erwiderte Rick niedergeschlagen.

„Ohhh, hat dir schonmal jemand gesagt, dass du ein richtiger Jammerlappen bist? Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen! Ist ja gut, dann jogge ich eben noch eine Runde durch den Park. Beweg deinen Popo dahin, ich bin eh schneller als du und will nicht ewig warten!“

Rick grinste wieder. „Mach nicht zu schnell, sonst stinkst du mich noch voll.“

Und bevor sie darauf etwas erwidern konnte, legte er auf und rannte er los zu Grachtens Garten.

 

 

„Lässt du wohl die Fische in Ruhe!“, maulte Violetta, als sie ihn Steine ins Wasser schmeißend auf der Brücke antraf. Sie stellte sich neben ihn und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Du brauchst gar nichts sagen, lass mich raten: Deine Eltern, stimmts?“ Sie kannte ihn eben zu gut. „Herrgott Rick, du tust, als wärst du der einzige Teenager, der Zoff mit Erwachsenen hat. Das ist normal! Es ist ein Zeichen dafür, dass du dir deine eigenen Ansichten aufbaust. Das ist gut! Sei froh, dass du dich abnabelst, so soll es doch sein!“

Rick starrte nur weiter ins Wasser. „Meine Mutter ist schwanger.“

Nun war selbst Violetta sprachlos. „Oh. Aber ist sie nicht schon ein bisschen … naja …“

„Steinalt? Total durchgeknallt? Und vor allem EXTREM PEINLICH?! Ja! Richtig! Letzte Woche haben diese beiden Verrückten noch darüber gesprochen, ihre Rente einzureichen, um mehr Zeit für ihre privaten Forschungen zu haben. Und jetzt setzen sie in ihrem Alter noch ein Kind in die Welt! Was stimmt denn bei denen nicht?“

Violetta schaute etwas ratlos. „Naja, immerhin sind sie Wissenschaftler, vielleicht haben sie irgendeine Methode gefunden, dass auch ältere …“

„Und die müssen sie dann gleich an sich selbst testen? Das ist einfach nur absolut widerlich!"

"Also so schlimm ist es nun auch nicht", versuchte Violetta einzuwerfen.

Doch Rick war nicht zu beruhigen: "Ist es wohl! Ich sag dir was passiert ist: Sie merken, dass sie alt werden. Deshalb bekommen sie Torschlusspanik. Außerdem ist ihnen aufgefallen, wie missraten ich geworden bin, und wollen es mit einem neuen Kind nochmal probieren."

"Rick ...", versuchte es seine Freundin nochmal.

"Doch doch, so als zweite Chance, verstehst du? Wenigstens hat das Baby dann Eltern, die immer da sind, die nicht einen Geburtstag nach dem anderen verpassen, weil sie grade an einem ach so wichtigen Versuch arbeiten!“

„Rick, halt deine Klappe!“ Violettas Stimmung schwang um und sie funkelte ihn an. „Denkst du, du bist der einzige vernachlässigte, arme, kleine Sohn? Was meinst du, haben meine Eltern gemacht? Mir abends eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen? Ich hab, kaum dass ich laufen konnte, jede nur erdenkliche Sportart ausprobieren müssen, unter den Augen zig professioneller Sportfanatiker, die dann genau ausgewertet haben, wo ich am meisten Talent zeige! Entweder ich leistete was, oder ich war nichts wert in der Familie. Dass ich gute Noten heim bringe ist sowieso selbstverständlich, aber ich muss bitteschön auch noch Höchstleistungen im Sport aufweisen! Im Gegensatz zu dir hab ich weiß Gott genug Zuwendung, aber auch das ist eben nicht das non plus ultra! Das kannst du mir glauben.“

 

Jetzt war es an Rick, sie verblüfft anzuschauen. Er dachte immer, seine beste Freundin sei aus eigenem Antrieb so am Sport begeistert und ehrgeizig. Klar, dass Sofie Joschke nicht nur sich selbst sondern auch ihren Mann und ihre Tochter ordentlich antrieb, war in ganz Desiderata bekannt. Aber dass sie so gnadenlos zu ihrer kleinen Tochter gewesen war, das war in der Nachbarschaft nicht durchgedrungen. Er versuchte logisch abzuwägen, was wohl schlimmer war: Überambitionierte Eltern die ihren Kindern keine freie Minute ließen, oder verrückte Arbeitstiere die ganz vergessen hatten, dass zuhause noch ein kleiner Sohn auf sie wartete. Keins von beidem klang nach einer besonders glücklichen Kindheit. Aber wo setzte man die Maßstäbe für eine glückliche Kindheit an? Waren Eltern nicht auch Menschen mit Fehlern? Aber sie hatten auch so viel Verantwortung, und dessen hätten sie sich doch vor der Elternschaft schon bewusst sein sollen! Die beiden Teenager hingen schweigend ihren Gedanken nach und sahen auf die Fische im Wasser . Nach einer Weile sagte Rick: „Weißt du, wenn ich es recht überlege, ist mein Vater gar nicht so schlimm. Er hat mir mal erzählt wie er sich gefreut hat, als ich geboren wurde.

Und er hat sich auch manchmal mit mir hingesetzt und ein Buch gelesen. Ein lehrreiches natürlich, „Wie funktioniert das Wetter?“ oder so, aber das war echt cool. Ist bis heute mein Lieblingsbuch.“

„Und auch das einzige, das du bis heute gelesen hast“, konterte Violetta. Plötzlich fingen beide an laut loszuprusten. Aus dem Prusten wurde in lautes Gelächter sie lachten sich den ganzen Frust mal lauthals von der Seele. Es dauerte eine ganze Weile bis sie sich wieder beruhigen und Luft holen konnten.

 

„Weißt du, mit meinem Papa versteh ich mich eigentlich auch ganz gut“, sagte Violetta japsend und wischte noch eine Lachträne aus den Augenwinkeln. „Naja, er ist eben ein richtiger Schussel, bekommt manchmal die einfachsten Dinge nicht hin. Als Baby wollte er mich mal in einen Hochstuhl setzen um mich zu füttern, und hat es einfach nicht gebacken bekommen. Bis meine Mutter kam und ihn angeschnauzt hat, was das denn für neue Sitten seien, dass ich auf dem Küchentisch sitze während er mich fütterte, statt in meinem Stühlchen."

Bei der Vorstellung mussten beide wieder anfangen zu lachen. Doch dann wurde Violetta nachdenklicher. "Weißt du, das erzählt er mir immer, wenn meine Mutter mich wieder zusammengefaltet hat, weil ich im Training was nicht hinbekommen habe. Und dann spielt er mit mir Fußball. Als wolle er mich trösten, weiß aber nicht genau wie. Dabei hilft mir ein bisschen Ball spielen ohne Erfolgsdruck schon echt weiter. Auch wenn er sich nicht richtig gegen meine Mutter durchsetzen kann, ist er oft sehr goldig."

Rick nahm tröstend ihre Hand. „Also so wie ich das langsam sehe, sind unsere Väter eigentlich doch ganz ok, oder? Zumindest ab und zu. Aber was machen wir mit unseren verrückten Müttern?“ Wieder schwiegen sie eine Weile. Ihre Hände ließen sie dabei aber nicht los. Es fühlte sich viel zu toll an. Es gab Rick nicht nur freundschaftlichen Halt, den er seit frühen Kindertagen in der quirligen Sportlerin gefunden hatte, da war noch was anderes … Klitzekleine Stromschläge und wohlige Wärme die von ihren verschlungenen Händen ausging und seinen Körper zu neuem Leben erweckte. Als hätte man ihm ein unsichtbares Lasso auf Magenhöhe umgeworfen und würde ihn daran immer näher zu seiner besten Freundin ziehen. Er musste sich wirklich beherrschen, sie nicht einfach in seine Arme zu reißen. 

Plötzlich schaute Violetta Rick begeistert in die Augen. „, Mensch, ich hab eine Idee! Meine Mutter hatte das zwar anders für mich geplant, ich sollte ja auf diese Sportakademie. Aber Daniel Glocke hat mir neulich von der Uni erzählt, auf die er nach seinem Abschluss gehen will. Die haben einen hervorragenden Ruf und echt ein tolles Angebot, das alle Talente abdeckt. Mit Papas Hilfe kann ich meiner Mutter das bestimmt so verkaufen, als wäre es ihre Idee gewesen. Weißt du, ich will schon was Sportliches machen, schließlich habe ich mein ganzes Leben lang daran gearbeitet. Aber ich will nicht NUR Sport treiben den ganzen Tag. Ich brauch auch mal was anderes. Und ein bisschen Freiheit, ich will endlich mal auf Partys gehen, einfach jung sein und ausgelassen. Ich komme mir eh schon uralt vor. Ich meine, meine Jungendzeit ist fast vorbei und ich habe nichts wirklich Spannendes getan. Früher mal ab und an ein Kindergeburtstag, wenn nicht grade ein Wettkampf anstand. Aber dann hat Mama mich immer ermahnt, ich solle nichts vom Kuchen essen um fit zu bleiben. Ich möchte mal machen, was ich will! Mit meinen Freunden rumhängen und spontan entscheiden, was ich esse und wo ich hingehe. Was hälst du davon Rick? Lass uns zusammen auf Daniels Uni gehen, ja?" Violettas Augen glitzerten bei dem Gedanken. "Dann sind wir weg von unseren Eltern, du musst deine Mutter und das Baby nicht sehen wenn du es nicht willst, und ich kann endlich mal was anderes tun als immer nur Sport, Sport, Sport.“ Rick dachte nach. Er wollte ihren Enthusiasmus nicht dämpfen, musste ihr aber den Wind aus den Segeln nehmen: „Vi, du bist eine kluge Schülerin und eine großartige Sportlerin. Für dich, und auch für Daniel Glocke, den ollen Streber, gab es nie eine andere Option als das Studium. Aber für mich ist das nie in Frage gekommen, guck dir allein meine Noten an …"

„Ach paperlapapp, du bist schon intelligent genug. Du warst nur die ganze Zeit stinkend faul.“ Liebevoll, aber kräftig knuffte sie ihm in die Seite. „Jetzt wo wir ein Ziel haben, wirst du dich ein bisschen anstrengen! Ich helfe dir natürlich, ich bin eine gute und sehr strenge Lehrerin.“ Sie grinste ihm spitzbübisch zu. „Und vergiss nicht, deine Eltern mögen zwar nicht immer alle Tassen im Schrank haben, aber eines haben sie: Einfluss. Sie sind hoch geschätzte Meeresbiologen. Allein das öffnet dir einige Universitätstüren.“ Auch wenn Rick es nicht gerne zugeben mochte, aber sie hatte recht. Mit allem. „Och Mann, dann muss ich auf meine alten Schultage nochmal richtig fleißig werden und … lernen?“ Angewidert verzog er das Gesicht. „Ganz genau, du fauler Junge! Aber einen Gefallen kann ich dir tun: Ich komme morgen nach dem Training zu dir und rede mit deinen Eltern. Dann musst du das nicht tun und ich weiß ja, dass sie mich regelrecht lieben. Die werden mir aus der Hand fressen und dich sogar in Ruhe lassen, weil ich sagen werde, du müsstest dich von jetzt an auf die Schule konzentrieren.“ Voller Dank drückte Rick Violettas Hand noch fester. Sie kannte ihn eben ganz genau und tat ihm nur gut in dem ganzen Wirrwarr, das sich sein Leben nannte. Eigentlich brachte sie ihn sogar erst wieder dahin, dass sein Leben Inhalt hatte und Spaß machte. Was würde ihn nach seinem Schulabschluss denn erwarten, wenn sie weg wäre? Ein langweiliger Job, Videospiele und die erdrückende Bevormundung seiner verrückten Eltern. Er wollte nicht, dass seine beste Freundin einfach an irgendeine Uni verschwand und sich wahrscheinlich so auf ihre Sportkarriere stürzen müsste, dass er seine Vi bald nicht mehr erkannte. Vermutlich würde sie ihn auch gar nicht mehr sehen wollen. Diese Chance, die Violetta wieder mal extra für ihn austüffteln wollte, musste er ergreifen. Auch um dieses wundervolle Mädchen weiterhin in seiner Nähe wissen zu dürfen. Er merkte gar nicht, wie er sie während seiner Gedankengänge angestarrt hatte. Deshalb fragte sie empört: „Was gibt’s denn da zu gucken? So schlecht ist meine Idee jetzt nicht!“ Rick schreckte kurz auf und sah hinaus auf den Teich. „Weißt du Vi, wenn ich mal erwachsen bin, will ich alles ganz anders machen. Ich werde meine Kinder nicht zu etwas drängen, das sie nicht wollen. Ich werde ihnen nicht alle Freiheiten nehmen und ihre Kindheit mit unsinnigen Beschränkungen versalzen. Ich will eine glückliche Familie, mit glücklichen Kindern und einer glücklichen Frau. Ich will meine Frau lieben, nicht weil sie komische Gesteine einsammelt und analysiert oder mich im Sport schlägt. Ich will sie lieben, weil sie mich versteht, weiß wie ich ticke und auf meiner Wellenlänge ist. Oder weil sie mich unterstützt, auch wenn sie mich grade gar nicht versteht. Weil sie mir vertraut, dass das, auf das ich Wert lege, wirklich wichtig ist. Ich werde sie lieben, einfach so. Einfach, weil sie … weil ich sie gern habe.“

Violetta hatte wohl gemerkt, wie er über die letzten Worte gestolpert war und ihr nicht mehr in die Augen schauen konnte. Und da waren noch diese kleinen Stromschläge, die jetzt aber nicht nur ihre sich festhaltenden Hände betrafen, sondern die ganze Luft zwischen ihnen und um sie herum zum Knistern brachten. Auch sie musste ihren Blick vor Verlegenheit abwenden. „Naja das sollte man auch, oder? Ich meine, jemanden lieben weil man ihn … halt … liebt? Einfach so?“, druckste nun auch sie herum. „Das ist doch überhaupt die Voraussetzung für die Liebe oder?“, sprach sie weiter. Doch während sie das sagte, spürte sie, wie Rick auch ihre andere Hand nahm.

„Ich meine, wie soll man denn sonst eine glückliche Beziehung führen …“

Jetzt standen sie einander in die Augen schauend und Hand in Hand gegenüber.

„… wenn nicht …“

Er zog sie näher an sich heran.

„… weil man den anderen liebt … einfach so …“

Rick legte seine Hände auf ihren Rücken und grinste schief:

„Was du da redest ergibt gar keinen Sinn und ist gleichzeitig die Erklärung für alles“, meinte er. Violetta verstummte und sah ihn nervös an. 

Vorsichtig nahm er ihren Kopf in seine Hand und flüsterte: „ Einfach so.“ Dann nährte er sich ihrem langsam ihrem Gesicht, bis seine Lippen ihre sanft berührten. Beiden klopfte das Herz bis zum Hals. Von kleinen Stromschlägen konnte nicht mehr die Rede sein, das hier war tausendmal intensiver. Sie schwebten regelrecht auf der knisternden Luft, die sie umgab. Die kleine Holzbrücke wurde zu einem fliegenden Luftschiff, das sie in andere Sphären brachte, fern von der Welt mit all den Problemen und Zweifeln. Sie hielten einander fest. Sie beide zusammen. Alles andere war unwichtig.

So ebneten Rick und Violetta durch diesen ersten Kuss ihre Zukunft. Eine Zukunft voll schöner und glücklicher, aber auch trauriger Momente.

 


Am nächsten Tag kam Violetta tätsachlich direkt nach dem Training bei Rick vorbei und bearbeitete dessen Eltern. Wie sie vorausgesagt hatte, fraßen die ihr nicht nur aus der Hand, was die akademische Zukunft ihres eigenen Sohnes angeht, sie boten ihr neben allerlei Erfrischungen auch noch ein naturwissenschaftliches Praktikum in ihrem Institut an. Violetta musste sich dann doch ein Lachen verkneifen. „Vielen Dank, Edgar, aber ich und Wissenschaft … ich würde ganz Desiderata in die Luft sprengen.“

Edgar wollte aber ganz und gar nicht von der Idee abweichen. „Warum denn nicht? Daniel Glocke fängt auch bald ein duales Studium an, so haben wir ihm auch schon einen Platz im Wohnheim vom Institut aus sichern können. Er ist im meeresbiologischen Bereich und hat die besten Chancen meine Nachfolge anzutreten, wenn ich mich um unseren Nachwuchs kümmern möchte.“ Edgar strahlte vor Stolz und bemerkte dabei gar nicht, wie diese Aussagen Rick noch mehr verletzten. „Taktgefühl haben die beiden wirklich null. Wobei sie es wahrscheinlich nicht mal merken“, dachte sich Violetta im Stillen, sagte jedoch nichts. Doch wie um noch eins draufzusetzen, kam Olga mit einer Karaffe frischem Saft aus der Küche und hackte weiter: „Ach Edgar, da musst du aber ein bisschen früher in Rente gehen müssen um für unseren kleinen Schatz von Anfang an da sein zu können. Bis Daniel dich vertreten könnte, ist es ja schon in der Schule! So lange soll es auf dich verzichten? Ein Kind braucht doch eine Bezugsperson!“ Zack, wieder ein Stich mitten in das Herz des eigenen Sohnes. Violetta wurde es langsam zu bunt. Sie wollte hier aufgreifen und wenigstens etwas für Rick bei seinen Eltern herausholen. „Könnten Sie dann vielleicht für Rick auch einen Platz im Wohnheim besorgen? Dann hätte er diese Sorge weniger, während er sich auf seine Noten konzentrieren muss.“ Überrascht sahen Olga und Edgar sie an. „Aber Liebes, das haben wir doch bei seiner Einschulung schon! Wir dachten nur, er wolle nicht zur Uni. Aber der Platz ist immernoch reserviert. Und für dich kriegen wir auch einen. Das ist doch gar keine Frage“. Nun war sowohl Violetta als auch Rick sämtlicher Wind aus den Segeln genommen.

„Nur einen Gefallen müsst ihr mir tun“, meinte Olga weiter, „kümmert euch ein bisschen um Paula. Neulich habe ich mit Viktor geredet. Natürlich ist er stolz auf seine Tochter und freut er sich über ihr Stipendium, aber er hatte ja schon immer Zweifel an Elisabeths Drill gegenüber der Kleinen. Jetzt fürchtet er, sie könnte sich einsam an der Uni fühlen. Nehmt ihr euch ihrer ein bisschen an, ja?“ Rick mischte sich zum erstem Mal verdutzt in das Gespräch ein: „Die kleine Paula Adler? Was hat die denn an der Uni zu suchen? Die ist doch grade mal der Grundschule entsprungen!“ Olga und Edgar warfen sich allwissende Blicke zu. „Nun ja, sie ist etwas jünger als ihr, das stimmt. Sie ist wohl sehr begabt und konnte so einige Klassen überspringen. Musikalisch wird sie wie der nächste Mozart gefeiert.“ Olgas Miene in diesem Moment ließ darauf schließen, was sie davon hielt, ein Kind in diese Schublade zu stecken. „Im Ballett hat sie schon alle möglichen Coaches auf sich aufmerksam gemacht und die Unianwerber rennen den Adlers ständig die Tür ein. Die wollen so ein Talent frühstmöglich fördern und für ihre Uni verbuchen. Elisabeths harte Erziehung hat scheinbar Wirkung gezeigt.

Ein ganz falscher Ansatz, wenn ich mich fragt!", schwadronierte Olga weiter. Rick verkniff sich grade so ein „Es hat aber niemand gefragt, Mutter!“ und Olga fuhr fort: „Ich mag Elli, aber was das angeht wünschte ich Victor und Luis wären ab und an mal eingeschritten! Unter welchem Druck die kleine Paula stehen muss! Das ist doch keine kindgerechte Erziehung! Sowas kann man doch der Kleinen nicht antun!“, erzählte Olga bedrückt und schielte unauffällig zu Violetta. Wollte Olga aus ihr etwa unverarbeitete Kindheitstraumata herauskitzeln? Sollte sie hier am Tisch eine tränenreiche Show abziehen, nur damit Olga das Gefühl hatte, die gesamte Nachbarschaft mit ihren neuen, liberalen Ansichten austherapieren zu können? Violetta wollte ihrem Freund ja helfen, aber den Gefallen tat sie seiner Mutter keinesfalls! Irgendwo reichte es. Deshalb versicherte sie ihr nur: „Kein Problem, wir schauen nach Paula. Ich wollte schon immer Geschwister, da spiele ich gerne ein bisschen die große Schwester.“ Erleichtert die Situation gerettet und zudem ein Studentenzimmer ohne großen Aufwand ergattert zu haben, wollte sie ihren Saft austrinken und sich verabschieden, als Olga wieder anfing: „Oh Liebes, wollen deine Eltern sich das nicht auch nochmal überlegen? Heute morgen erst habe ich deine liebe Mutter getroffen und ihr von unserem Baby erzählt, sie war ganz begeistert! Vielleicht werdet ihr alle beide bald große Geschwister?“

Violetta verschluckte sich so heftig, dass sie ihren letzten Schluck Saft quer über den Tisch spuckte. Rick, der sich vor Lachen schüttelte, klopfte ihr auf den Rücken. Als sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, meinte sie nur hustend, das wäre ja alles ganz nett, aber ihre Mutter möchte nun endlich ihre Karriere an die Spitze bringen und sicher keine weiteren Kinder haben wollen.

Dass sie überzeugt war, dieses mit Anabolika vollgepumpte Weib sei gar nicht mehr in der Lage Kinder zu bekommen, auch wenn Violetta wusste, dass ihr Vater sehr gerne noch mehr kleine Wesen um sich gehabt hätte, verschwieg sie. Sie wollte auch gar nicht über diese klirrende Kälte zwischen ihren Eltern nachdenken, sie waren erwachsen und wussten, was sie taten. Oder zumindest war es deren Sache. Violetta wollte sich jetzt auf Rick konzentrieren, dass er es auf die Uni schaffte und sie beide ihren eigenen Weg gehen konnten.

Rick legte sich auch mächtig ins Zeug, sogar seine Mutter war erstaunt, wie enthusiastisch ihr Sohn auf einmal lernen konnte. Und machte sich, wie jeden Tag seit Beginn ihrer neuen Schwangerschaft, Gedanken über Erziehung und ob sie nicht vielleicht doch etwas falsch gemacht hatte bei Rick.

Für Violetta war der Schulabschluss der reinste Spaziergang, sie hatte schon immer gute Noten geschrieben und dementsprechend schon durch den Jahresfortgang ihren Abschluss gesichert. Am Prüfungstag war sie trotzdem nervös, wusste aber, dass sie so oder so studieren und dem Einfluss ihrer Mutter entgehen konnte. Unter diesem gemilderten Druck war sie in der Lage, in jedem Fach Bestnoten zu schreiben. Rick dagegen hatte wirklich zu kämpfen. Sonst wäre ihm das egal gewesen, aber da eine gemeinsame Zeit mit Violetta winkte, strengte er sich sehr an. Und er bestand. Zwar ganz knapp und grade so, aber immerhin. Dem gemeinsamen Studium stand nun nichts mehr im Wege. 


Das Wohnheim des wissenschaftlichen Institutes war nichts besonderes, aber sowohl Rick und Violetta, als auch Daniel und Paula bekamen jeweils ihr eigenes Zimmer. Was zwischen lauter partywütiger Studenten nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte, es kam durchaus vor, dass man in seinem Zimmer schlief und beim Aufwachen mehrere Kommilitonen feiernd vorm eigenen Bett vorfand. Nicht jeder hatte einen so tiefen Schlaf wie Rick, dem das gar nichts ausmachte. Besonders die Mädels verschlossen nach einiger Zeit gewissenhaft ihre Türen.

Für die kleine Paula Adler hatte Olga sich noch eingesetzt, sei es aus simpler nachbarschaftlicher Freundlichkeit gegenüber Viktor und Elisabeth, oder aber ihre neuen Philosophien in Erziehungsfragen, die sie jedem, der es hören wollte oder nicht, unter die Nase rieb. Selbstbestimmung des Kindes, Yoga in der Schwangerschaft, eine enge Verbindung der Mutter und des Ungeborenen zur Natur …

Nicht selten war es ihren Zuhörern zu viel und sie nahmen Reißaus, bevor Olga auch noch eines ihrer Kinder umerziehen konnte. Bei Paula Adler sah sie sich jedenfalls verpflichtet, ein bisschen was wieder gut machen, was die unwissende Elisabeth versäumt hatte, und wollte die Kleine in guter Obhut wissen. Grade Violetta nahm sich Olgas Bitte auch zu Herzen, weil sie ja selbst wusste, wie es war unter enormem Leistungsdruck zu stehen. Aber so klein und hilflos, wie alle annahmen, war Paula Adler gar nicht.

Innerhalb weniger Monate hatte sie das ganze Studentenwohnheim in hellen Aufruhr gebracht, und das, ohne auch nur einen Moment die Uni zu vernachlässigen. Sie war durchgehend Jahrgangsbeste. Violetta war teilweise richtig neidisch auf Paula, da es ihr selbst wesentlich schwerer fiel, die guten Noten beizubehalten. Die Uni war eben nicht mehr mit der Schule zu vergleichen.

Sie versuchte sich einzureden, dass Paula deshalb so spielend leicht in allem Hochleistungen vollbringen konnte, weil sie Ballett und Musik studierte, etwas, das ihr sowieso lag und wofür sie auch einige Stipendien bekommen hatte. Violetta dagegen hatte sich neben dem Sport noch für Politikwissenschaften eingeschrieben, dafür hatte sie sich schon immer interessiert. Aber es war auch ein komplett neues Gebiet für sie. Sehr interessant, keine Frage, und Violetta konnte sich in den politischen Erkenntnissen auch regelrecht verlieren. Dennoch musste sie wesentlich mehr Zeit aufwenden als Paula, um beide Studienfächer unter einen Hut zu bekommen. Es verursachte immer einen kleinen Stich, wenn Violetta von Büchern umzingelt an ihrem Schreibtisch saß und währenddessen Paula hörte, die Partys feierte und mit ihrem jugendlichen Charme das ganze Wohnheim verzauberte. Das war aber nicht der einzige Grund für Violettas Eifersucht. Hinzu kam, dass ihre „kleine Schwester“ sich auch immer öfter Rick schnappte. Angeblich um mit ihm zu lernen.

Eigentlich hätte Violetta darüber froh sein können, so brauchte sie sich keine Sorgen um ihren Freund zu machen und konnte sich auf ihr eigenes Studium konzentrieren. Aber etwas störte sie daran. Rick sagte immer so bereitwillig zu und Paula hing wie eine Klette an ihm. Irgendetwas war im Busch und drohte, Violettas Vertrauen in Rick anzufallen und zu verzehren.

 

Als sie eines Abends gestresst aus einer Vorlesung kam sah sie Rick und Paula vorm Wohnheim eng zusammen stehen. Ob sie tuschelten oder sich küssten, war Violetta in dem Augenblick völlig egal. Sie waren sich sehr nah. Viel zu nah. Das Etwas kam aus dem Busch. Es zog und zerrte an Violetta, es schnappte sich ihr Vertrauen in Rick und zerfetzte es in kleine Stückchen. Violetta raste auf die beiden zu. „Na was macht ihr beiden Hübschen denn da?“, zischte sie wie eine giftige Schlange. „Turtelt ihr ein bisschen herum? Bisschen schmusen, hm? Oder lästert ihr nur einfach über die dumme, naive Freundin? Die man so schön an der Nase herumführen kann? Die eh nichts merkt?“

Die Angegriffenen zuckten erschrocken zusammen und drehten sich zu ihr herum. Paula riss entgeistert die Augen auf, sah ihre "große Schwester" an, und murmelte nur „Schulligung“. Dann flitze sie wie ein Haken schlagendes Kaninchen ins Haus.

Rick hingegen erwachte langsam aus seiner Schockstarre. Er betrachtete seine Freundin eine Weile, setzte dann sein schiefes Grinsen aus und zog sie an sich. „Was ist los, meine kleine Meckerziege? Warum schmollst du mit mir?“, fragte er in einem Ton, als würde er mit einem Kleinkind reden. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Violetta sammelte alle Energie und schrie den ganzen Frust, der sich seit Wochen des Lernens angesammelt hatte, heraus. „Behandle mich bloß nicht wie ein Baby! Das kannst du mit deiner minderjährigen Ische tun, nicht mit mir!“ Niemand hatte sie je so laut schreien hören. Rick wich erneut vor ihr zurück und irgendein Fenster des Wohnheimes wurde geöffnet, scheinbar um neugierigen Zuhörern ein besseres akustisches Erlebnis zu verschaffen. Schaulustige fuhren Violettas Wutpegel zwar nicht grade runter, brachten sie aber dazu, mit gedämpfterer Stimme zu reden. „Wie konntest du sowas nur machen, Rick?“ Eine ganze Menge Enttäuschung schwang in ihren Worten mit, über ihren Freund, der jahrelange Freundschaft und mehrere Monate glückliche Beziehung einfach so für diese kleine Göre wegschmeißen wollte. Das Vertrauen, das sie seit ihrer Kindheit aufgebaut hatten … weg. Die schönen gemeinsamen Stunden, erst während der Schulzeit, dann nach dem Abschluss, und nun auch in den Monaten hier an der Uni … weg. Alles weg. Alles kaputt. Und während sie die bis dahin grausamsten Sekunden ihres Lebens versuchte durchzustehen, grinste er sie auch noch frech an! Violetta konnte es nicht glauben. Sie war so unglaublich verletzt und enttäuscht.

Rick dagegen dachte gar nicht daran, sein Grinsen einzustellen. Stattdessen nahm er seine Liebste, umfasste sanft aber bestimmt ihr Handgelenk und zog sie näher an sich heran. Er schaute ihr tief in die Augen, wie viele Monate zuvor auf der Holzbrücke und sagte: „Du bist ja richtig heiß, wenn du so wütend bist. Du dampfst fast, Schatz. Könntest du aber mal kurz aufhören über >diese minderjährige Ische< zu lamentieren? Dann würdest du nämlich auch merken, dass ich von Paula so rein gar nichts will. Weil ich nun mal dich liebe. Und zwar einfach so. Weil ich dich sehr gern habe.“ Dass er sich so genau an seine Worte von damals erinnerte, überraschte Violetta nun dermaßen, dass sie sich erst einmal sammeln musste. Immerhin war sein süßes Liebesgeständnis schon ewig her. Normalerweise erinnerte er sich nicht mal an Geburtstage oder sonst ein wichtiges Ereignis. Und jetzt schmetterte er ihr diese liebevollen Worte um die Ohren, die sie trotz ihrer damaligen Nervosität wahrscheinlich niemals vergessen würde. Sie war baff.

„Aber warum hängt ihr ständig zusammen rum? Dann will eben sie was von dir und du merkst es nicht!“, wollte Violetta doch noch wissen. Rick wollte nicht mit der Wahrheit rausrücken. Er zögerte mit seiner Antwort: „Vi, ich weiß ja du hast viel zu tun, du bist noch mehr im Stress als ich mit deinen zwei Studiengängen, aber sonst bist du doch viel, viel klüger und aufmerksamer als ich. Bei aller Liebe, ich glaube, hier merkst du grade etwas nicht. Ist dir nichts aufgefallen in letzter Zeit? Es ist sogar mir ins Auge gesprungen, obwohl ich wirklich total merkfrei bin. Überleg mal. Es ist wirklich nicht zu übersehen.“ In Violettas Kopf ratterte es. Solche Worte hörte man doch sonst nur in einem Zusammenhang. „Bist du schwanger?“, ihre alte, spontane Frechheit kehrte langsam wieder zurück. .„Na danke, dass du mich für so dick hälst!“ antwortete er lachend, „Aber nein, ich meine an Paula, ob dir an Paula was aufgefallen ist?“ Nun entglitten der vielbeschäftigten Studentin alle Gesichtszüge: „Oh mein Gott! Paula ist schwanger?!“

 

Rick lachte noch lauter. „Dir ist die Lernerei echt zu Kopf gestiegen oder? Mal mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Paula ist noch ein ausgeflippter Teenager, dem die Freiheit am College viel zu gut tut, ja. Aber so vernünftig ist sie dann doch noch. Sie ist einfach nur unsterblich in Daniel verliebt!“ „Ohhhhhh“, machte Violetta nur. Langsam ging ihr ein Licht auf. Sie hatte nicht nur ihren Freund und Paula ständig zusammen gesehen …

Daniel war auch immer in der Nähe gewesen! Wie konnte sie das nicht gemerkt haben? „Du meinst also … Paula und Daniel …?“, fragte sie noch ganz verdattert. Rick nickte. „Zumindest denkt sie das. Naja, du kennst ja junge Mädchen in dem Alter. Sie kann ohne Daniel nicht mehr leben, muss nur an ihn denken und bringt lauter schwachsinnige Aktionen, um ihn zu beeindrucken. Die Kleine wird langsam echt anstrengend. Zum Glück ist sie nicht auf den Kopf gefallen und schafft es trotz ihres Teenagergehabes noch zu guten Noten.“ In Violetta fing wieder der Neid an zu brodeln. Besser sie lenkte das Thema wieder auf Paulas Verliebtheit: „Und was sagt Daniel dazu?“ „Ganz ehrlich?“, Rick seufzte, „Ich hab keinen Schimmer. Ich habe meine Meinung über ihn etwas geändert, seit ich versuche die beiden einander näher zu bringen. Er ist echt nett. Aber unglaublich ruhig und so … nichtssagend. Er macht zwar bei allem mit was Paula ihm vorschlägt, aber dann schweigen sich die beiden wieder ewig an. Letztendlich muss ich immer dazu kommen und das Gespräch vorantreiben. Eigentlich passen sie gut zusammen, Daniel wird ja auch nächstes Jahr erst volljährig. Wir haben uns ganz schön Zeit gelassen mit dem College, Vi. Warum haben wir Intelligenzbestien nicht auch ein paar Klassen übersprungen, wir waren doch so … Vi? Viiiiiii?! VIOLETTA!!!“ Energisch fuchtelte er seiner Liebsten mit der Hand vor der Nase rum. Aber die war in Gedanken und starrte Löcher in die Luft. Bis sie plötzlich anfing zu kichern. „Rick, du bist doch echt der merkfreiste, unfähigste Date Doctor der Welt!“ Violetta kriegte sich gar nicht mehr ein. „Was tun schüchterne Jungs wenn ihnen ein Mädchen gefällt? Genau! NICHTS! Er bekommt den Mund nicht auf, weil er Paula auch echt gut findet!“ Rick fiel jegliche Mimik aus dem Gesicht. Seine Freundin lachte ihn nur aus: „Wie konnte meine >kleine Schwester< so dumm sein, wo sie doch sonst das reinste Genie ist! Ab jetzt übernehme ich deine Arbeit, du lässt mal schön die Finger davon, Mister! Wollen wir doch mal sehen, ob wir die beiden nicht verkuppelt kriegen!“ Voller Tatendrang ballte Violetta die Fäuste. Rick nahm sie begeistert in den Arm und drückte sie fest an sich. „So kenne ich meine kleine Vi!“ „Klein?“, rief Violetta empört und stieß ihn von sich, „Was bist du wieder frech heute! Ich bin eine erwachsene junge Frau, bitteschön!“ Rick hielt sie weiter im Arm, schob sie aber so weit von sich weg, um ihr direkt in die Augen schauen zu können. „Du beharrst ja förmlich darauf, eine ganz Große zu sein, was? Eigentlich wollte ich noch etwas warten, alles vorbereiten und richtig schnulzig machen. Aber da du schon sooo erwachsen bist …“ Er kramte in seiner Hosentasche nach einem kleinen, eckigen Gegenstand. „Wann wäre der Zeitpunkt besser, als nach einem filmreifen Eifersuchtsdrama.“ Violetta zog einen Schmollmund und Rick konnte nicht anders, als wieder zu grinsen. „Ach Vi, du weißt doch, was für ein unromantisches Trampeltier ich bin. Dein Trampeltier. Nur deins. Für immer, wenn du willst?“ Und mitten auf dem Campus, direkt vor ihrem gemeinsamen Wohnheim, ging er auf die Knie …

 

 

Am nächsten Tag saß Paula allein am Tisch in der Mensa, als Rick und Violetta sich ihr gegenüber setzten. Paula sagte kein Wort und schaute nur verschämt auf, während das Pärchen vor ihren Augen herumturtelte. Violetta bemerkte es erst nach einigen Minuten und sprach sie an: „Hey Paula, es tut mir wirklich Leid, dass ich dich gestern so angefahren habe. Ich bin ganz schön gestresst zur Zeit. Weißt schon, mit den zwei Studiengängen und allem. War aber keine Absicht. Du bist doch wie eine kleine Schwester für mich. Paula konnte ihr aber immernoch nicht in die Augen schauen. Violetta wollte die Kleine irgendwie aus der Reserve locken. Schließlich hatte sie sich nichts böses gedacht, als sie mit Rick rumhing, und sich vor Violettas Ausraster doch ganz schön erschreckt.

Weißt du was, Paulachen? Als kleine Schwester erfährst du als Erste die guten Neuigkeiten.“ Als Versöhnungsgeste streckte sie ihr freudestrahlend ihre Hand entgegen. Am Ringfinger blinkte ein süßer kleiner Verlobungsring, den Rick von seinem bisschen Geld lange zusammen gespart hatte und erst gestern Abend beim Juwelier abgeholt hatte. So war die Ringschachtel noch in seiner Hosentasche und auch dieser vorgezogene, spontane Heiratsantrag sehr gut gelungen. Aber Paula nahm weder das schlicht funkelnde Schmuckstück, noch die zwei strahlenden Gesichter ihrer Freunde zur Kenntnis. Sie murmelte nur „Glückwunsch“ und blickte weiter verschämt zur Seite. „Hey Kleine, nun sei doch nicht so. Vi ist wirklich nicht böse, schau doch!“, versuchte Rick sie weiter aufzumuntern. Seine Verlobte hatte jedoch verstanden was hier vor sich ging. Sie lehnte sich zu ihrem Liebsten hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: „Schatz, Paulas Aufmerksamkeit gilt grade nicht uns. Eher dem Nebentisch. Verwundert drehte Rick sich um und sah Daniel, in ungefähr der gleichen Haltung wie Paula am Nebentisch sitzen. Violetta warf ihrem Verlobten einen Blick zu der bedeuten sollte: Hier muss was passieren, und zwar schleunigst!

 

In den folgenden Tagen heckten die Verlobten einen Plan nach dem anderen aus, um den beiden jungen Menschen zur ersten großen Liebe zu verhelfen. Erstens waren sie selbst so glücklich, dass sie jeden an ihrem Glück teilhaben lassen wollten, und zweitens war dieses Katz-Maus-Spiel zwischen Paula und Daniel nicht mehr schön mit anzuschauen.

Egal wie und wo man die beiden zusammen führte, sie wollten sich zwar gegenseitig beeindrucken, aber ein sinnvolles Wort miteinander zu wechseln – das war für diese beiden sonst so klugen Köpfe nicht zu bewerkstelligen. Es wurde gemeinsames Lernen, ein Ausflug in die Stadt, ein Picknick im Campuspark und ein Schwimmbadbesuch organisiert. Jede Mühe war vergebens. Paula und Daniel schienen sich durch ihre Schüchternheit sogar eher noch zu distanzieren, als zueinander zu finden. Einige Monate später, Violetta und Rick hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, veranstaltete ein Mitbewohner im Wohnheim eine kleine Party um die bestandenen Zwischenprüfungen zu feiern. Es gab gute Musik, kleine Snacks und sehr viel gut gewürzte Fruchtbowle. Völlig unbeeinflusst von irgendeiner außenstehenden Person, ergriff ein gut beschwipster Daniel die Inititative und nährte sich der tanzenden Paula. Sie begannen zu tanzen, immer enger und unkoordinierter, weil wohl beide in dem Moment andere Prioritäten hatten, als perfekte Dancemoves. Es passierte das, was sich nicht nur Paula und Daniel, sondern auch ihre beiden Verkuppler schon lange wünschten.

Violetta, die neben den beiden tanzte, stieß einen freudigen Quietscher aus und rannte zu ihrem Freund aans andere Ende des Raumes, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen. Am liebsten hätte sie die beiden geherzt, aber nach der langen Anstrengung wagte sie es nicht, das küssende Paar auseinander zu reißen. Was vielleicht ein Fehler war, denn seitdem klebten sie regelrecht aneinander. Noch Tage nach der Party rannten die beiden jugendlichen Studenten mit glühenden Gesichtern und etlichen Knutschflecken herum. Wann auch immer mal ein Raum leer war, hätte man ihn am besten nicht betreten sollen, weil man dort Daniel und Paula vorfand, die sich diesen schnellstmöglichen zueigen gemacht hatten um ihre wilden Knutschereien fortzuführen. Man konnte die Hormone zwischen den beiden  förmlichen herumfliegen sehen, was nicht für jeden Kommilitonen sehr erträglich war. Aber stören ließen sich die zwei schon mal gar nicht. Dazu war die erste große Liebe einfach viel zu schön.

Kurz nach Paulas und Daniels offiziellem Beziehungsanfang saßen Rick und Violetta in der Mensa und beobachteten stolz ihr „Werk“, als Violetta plötzlich anfing:

„Weißt du, Schatz, wenn man mal drüber nachdenkt, hab nicht nur ich Paula als kleine Schwester auserkoren. Du hast das selbst auch ganz freiwillig gemacht, indem du ihr geholfen hast.“ Rick wandte sich ihr mit vollem Mund zu und hob fragend die Augenbraue hoch. „Ja wirklich“, erklärte ihm seine Verlobte, „dafür, dass du deine eigene kleine Schwester bis heute noch nicht gesehen hast, hast du dich bei Paula ziemlich gut angestellt. Ich bin sehr stolz auf dich, weißt du. Aber hm. Willst du nicht wenigstens mal wissen wie die Kleine heißt?“

„Ollegafnl.“

„Wie bitte?“

Rick schluckte seinen viel zu großen Happen Spaghetti hinunter und antwortete lieber mit leerem Mund: „Allegra-Chanel. Das ist ihr Name. Hat mir zumindest meine Mutter geschrieben, noch bevor die Göre geboren wurde. Der ganze Brief handelte von >Allegra-Chanel wird dies bekommen und das machen, überhaupt wird sie ein ganz tolles Kind und sooo super gefördert.< Allegra-Chanel, Prinzessin der Schwachsinnigen. DAS wird sie werden, wenn sie so erzogen wird. Was für ein Name. Weiß Gott, wie meine Mutter auf den Mist gekommen ist. Wahrscheinlich hat es ihr irgend ein Waldgeist während der Meditation geflüstert." Violetta spürte, dass ihn die Sache mit seiner neuen Schwester selbst nach so langer Zeit noch aufregte, deshalb fragte sie ihn sanft: „Warum erzählst du mir das erst jetzt? Du hast nie erwähnt dass du mit deinen Eltern Kontakt hast.“

„Vi, was soll ich denn da viel erzählen? Das kann man nicht Kontakt nennen, ich unterrichte sie einfach über die wichtigsten Ereignisse und sie labern mich im Gegenzug mit den tollen Fortschritten der Kleinen zu. Meine Eltern spinnen einfach. Ich weiß nicht, was sie genommen haben, um jetzt nochmal so ein verrücktes Balg in die Welt zu setzen. Ich will es auch gar nicht wissen. Sie zahlen mir über das Institut den Platz im Wohnheim und ab und zu kommt mal etwas Geld an. Nicht mal auf mein Bankkonto, nein! Die schicken es per Post zusammen mit Kindermotivkarten! Entweder sie kriegen nicht gebacken, dass ihr missratener Sohn nicht mehr so süß klein ist wie das Chanel-Prinzesschen, oder sie schicken einfach die Reste von dem, was sie für die Göre nicht mehr brauchen.

Ich hab mit dieser Familie abgeschlossen, sie sollen tun was die für richtig halten. Ich baue mir meine eigene auf. Und zwar mit dir. Wir kriegen früh Kinder, nicht als alte Schrabnelle. Und kümmern uns gut um sie ja? Mir ist eine Karriere nicht so wichtig. Ich will ein guter Vater sein. Das ist doch die Hauptsache, dass man sich auf seine Eltern verlassen kann, dass sie für einen da sind. Auf wie viele Kinder muss ich mich eigentlich einstellen? Zwanzig? Dreißig?“ Violetta tat es weh, die Verbitterung in seiner Stimme zu hören und fand es gar nicht gut, dass er jetzt wieder vom Thema ablenkte und seinen Ärger mit seinen Witzchen versuchte zu unterdrücken. Aber sie konnte ihn auch  sehr gut verstehen und dieses Thema mit den Kindern wollte schon lange einmal anschneiden, hatte nur nie gewusst, wie. Es war der perfekte Zeitpunkt, um auf den Zug aufzuspringen. „Spinner!“, entgegnete ihm Violetta mit leicht errötetem Gesicht. „Eine ganze Schulklasse will ich nicht auf die Beine stellen. Aber ich will schon eine richtige Großfamilie haben, nicht wie du und ich, ganz allein. Kinder sollten ganz viele Geschwister und Freunde zum spielen haben.“ Rick hatte diese Zahlen nur ironisch aus der Luft gegriffen. Seine Verlobte klang aber so, als wäre sie von einer riesen Horde gar nicht allzu abgeneigt. Violetta sah den Zweifel in Ricks Gesicht und bereute schon wieder, diesen Wunsch geäußert zu haben. Aber wem sollte sie sonst ihre innigsten Wünsche mitteilen, wenn nicht dem Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte? Es nützte doch nichts, wenn sie diesen Wunsch verschwieg und erst nach der Hochzeit damit herausrückte. „Schatz“, begann Rick vorsichtig, „ich möchte auch gerne Kinder haben. Aber ich will, dass wir sie wirklich optimal aufziehen. Ich weiß nicht, ob man noch als gute Eltern gelten kann, wenn man zu viele Kinder hat. Nicht nur finanziell … man muss jedem Kind auch gleich viel Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, findest du nicht?“ Vor ihrem inneren Auge sah Violetta ihren Traum langsam schwinden. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass ihr Freund, der ja auch alleine aufgewachsen war, ähnlich dachte wie sie. Und nun verpuffte die Vorstellung von ihrer gemeinsamen Zukunft, mit einer ganzen Fußballmannschaft lachender und tobender Kinder im Garten, mit einem Mal. Rick sah, wie sich Tränen in den Augen seiner Freundin sammelten und nahm ihr Gesicht in seine Hand. „Hey, Süße. Nicht weinen. Das war doch nur so ein Gedanke. Ich will doch nur eine zufriedene Familie haben, weißt du? In der alle fröhlich sind und auch die Mama, die die perfekteste Mama überhaupt sein wird, mal zur Ruhe kommen kann. Was hattest du dir denn so vorgestellt, hm? Mit welcher Zahl wärst du glücklich?“ Er wischte ihr eine Träne von der Wange während Violetta versuchte ein Schniefen zu unterdrücken. „Ich hab mir keine genaue Zahl überlegt. Es sollen eben einfach sehr viele sein. Ich glaube nicht, dass es die perfekten Eltern je geben wird, aber wenn Kinder viele Geschwister haben, dort immer Halt finden und sich untereinander unterstützen können, dann sind sie doch bestens gewappnet für das Leben, oder? Ich habe es mir eben immer so ausgemalt.“ Wieder schluchzte sie leise auf. Rick überlegte eine Weile und merkte, dass seine Verlobte mit dieser Theorie gar nicht mal so falsch lag. Es war wirklich etwas dran. Aber er wollte sich nicht auf zu viele Kinder festnageln. Er sah ihr in die Augen und meinte: „Ok Schatz, pass auf. Wenn wir einen festen Job haben, und wirklich gut vorbereitet sind, um unseren Kindern zwar nicht jeden luxuriösen Wunsch erfüllen zu können, uns aber wenigstens nicht um Essen und warme Kleidung sorgen zu müssen, dann verspreche ich dir vier. Vier glückliche Kinder, die von uns mit Liebe überschüttet werden. Es ist nicht wichtig, dass sie immer die neusten und tollsten Dinge haben. Sie sollen aber wissen, dass sie geliebt werden. Nicht so wie bei unseren Eltern. Wir machen es besser, ja? Und ich denke, vier Kinder sind da genau richtig. Meinst du nicht?“ Während er sprach, sah Violetta die Wärme in den Augen ihres Verlobten. Sie wusste, er würde ein wunderbarer Vater sein. Auch wenn sie sich wesentlich mehr Kinder gewünscht hatte, mit vieren konnte sie sich erst einmal arrangieren. Sie nickte. Solange dieser Mann der Vater ihrer Kinder und immer an ihrer Seite wäre, würde alles gut. 

„Hey Vi!“, riss Rick sie aus ihrer Schwärmerei. Dann mach dich aber drauf gefasst, dass die Kleinen so aussehen werden. Er hielt ihr seinen mit Tomatensoße verschmierten Mund zu einem Kuss hin. „Ach, das krieg ich schon hin,“ erwiderte sie schelmisch und drückte ihm einen Schmatzer auf die Backe. „Mach dich lieber auf das hier gefasst!“ Und sie schleuderte ihrem Zukünftigen eine geballte Ladung Essen ins Gesicht. Der musste sich erst mal die Spagetthi aus den Haaren suchen, zögerte dann aber nicht lange und schmiss die doppelte Menge zurück.

 Die anderen Studenten flohen kopfschüttelnd aus der Mensa. Schließlich war man gesittet und erwachsen. Und außerdem wollte niemand dabei sein, wenn das ausgelassene Pärchen zum Aufräumen verdonnert wurde. Am Ende würde die Wohnheimaufsicht noch allen Bewohner des Hauses eine Gemeinschaftsstrafe aufbrummen. Nein nein, das sollten die beiden Quatschköpfe schön alleine ausbaden. Aber nach einem Heidenspaß sah das Ganze schon aus. Ach, warum war das Erwachsensein nur so kompliziert? Den ganzen Spaß musste man aufgeben, weil es sich nicht mehr schickte, so etwas wie Essensschlachten zu veranstalten. Wie doof.

 

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Einige Semester später

 

Nach den finalen Abschlussprüfungen wollten die vier Desiderata-Studenten einfach mal die Seele baumeln lassen und sich um gar nichts Gedanken machen. Sie schmissen die größte Party, die der Campus bis dato gesehen hatte. Jeder Student schloss sein Zimmer auf, zumindest solange, bis sich ein schmusendes Pärchen einen ruhigen Rückzugsort suchen wollte und ein Zimmer belegte. Jetzt war alles egal. Zum Schlafen legte man sich dorthin, wo es grade einigermaßen bequem war, und wenn es auf dem Hinterteil des Kommilitonen war. Die Nervensäge, die immer im Lama-Kostüm herumrannte, war dabei natürlich das beliebteste weil kuscheligste Kissen. Die Abschlussparty dauerte drei volle Tage, man feierte in jedem Winkel des Wohnheims und als am letzten Tag in einer offiziellen Feier die Zeugnisse vergeben wurden, gab es einige Studenten, die ihren Talar falsch herum trugen und sich mächtig vor ihren eingeladenen Verwandten beherrschen mussten. Auch wenn man schon lange volljährig war, wollte man nicht als beschwipster Bachelor oder Master in die große Welt starten. Aber grade die vier aus Desiderata, hatten sich diese große Sause auch verdient. Das fand auch Violettas Vater, der abends sogar etwas länger blieb und sich von seiner Tochter und dem zukünftigen Schwiegersohn zu ein bisschen Ausgelassenheit überreden ließ.

Dass Paula magna cum laude abschließen würde, war allen klar. Auch dass Daniel und Violetta nach fleißigem Lernen eine Auszeichnung erhalten würden, war nicht verwunderlich. Aber wie Rick das schaffen konnte, war selbst ihm ein Rätsel. Paula war nach zwei Gläsern Fruchtbowle der festen Überzeugung, der gesamte Prüfungsausschuss müsste wohl in Rick verliebt sein, und hätte ihm deshalb zu einem magna cum laude verholfen. Diese Theorie ließ aber eher auf ihre Jugend und nicht vorhandene Trinkfestigkeit schließen, als auf eine nicht ordnungsgemäße Prüfungsabnahme. Die anderen drei Absolventen hatten gemeinsam nämlich bereits eine komplette Bowle-Schüssel geleert, bevor sie auf glorreiche Ideen kamen. Diese Ideen formten sie im Laufe der endlosen Party zu immer wirreren Zukunftsplänen und manifestierten sich zu Träumen, die aus ihren betüdelten Köpfen gar nicht mehr rauszubringen waren. Eine davon war, sich gemeinsam die alte, renovierungsbedürftige Hütte am Desiderata-Strand zu kaufen, in der sämtliche Kinder der Nachbarschaft seit jeher Strandräuber spielten.

 

Nüchtern gesehen, war es tatsächlich eine gute Möglichkeit um Geld während der Anfänge im Arbeitsleben zu sparen. Außerdem wollte man zusammen wohnen bleiben und „bis in alle Ewigkeit weiter feiern“, das war auf dieser legendären Abschlussfete der mit Abstand wichtigste Vorsatz. Party all life long!